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Interview mit Cornelius Puschmann

cpuschmann_swDu bist Senior Researcher des Postdoc-Kollegs »Algorithmed Public Spheres« am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung und beschäftigst dich mit verbaler Aggression und der Rolle der Algorithmen. Sind die Menschen, die im Netz wütend sind, auch im ›analogen‹ Leben wütend?

Das ist schwer zu beantworten, auch deshalb, weil uns dazu derzeit noch die empirischen Befunde fehlen. Fest steht, dass es Menschen gibt, die sehr viel Frust gegenüber der Politik, den Medien und anderen gesellschaftlichen Institutionen empfinden, welche sie als elitär und ausschließlich an ihrem eigenen Vorteil orientiert wahrnehmen. Es gibt aber auch Menschen, die große Bestätigung aus den Reaktionen ziehen, die ihre Äußerungen im Netz auslösen, welche also eher Trolle im klassischen Sinne sind.

In welchem Zusammenhang stehen Social Bots und Hasskommentare?

Ich würde diese Phänomene zunächst getrennt betrachten. Social Bots spielen in ganz unterschiedlichen Diskursen eine Rolle. Sie können etwa Nachrichten verbreiten oder Transparenz herstellen. Sie können aber auch große Unterstützung für Positionen suggerieren, die in Wahrheit deutlich weniger Befürworter haben, oder durch starke Aktivität legitime Stimmen übertönen. Man kann sich allerdings auch eine konstruktive Rolle von Social Bots im Zusammenhang mit Hasskommentaren vorstellen, etwa wenn es darum geht, Personen gezielt anzusprechen, die solche Kommentare von sich geben.

Inwieweit werden die Themen, die in der Wissenschaft besprochen werden, in die nichtwissenschaftliche Realität übertragen?

Ich denke, gerade für die Sozialwissenschaften wäre es fatal, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse nicht in die Gesellschaft übertragbar wären. Gleichzeitig kommen die Themen im Gegensatz zu den Theorien ja aus der Gesellschaft, ob das jetzt der Klimawandel oder die Digitalisierung ist.

Welche Chance haben die User, im Netz selbst für eine bessere Stimmung zu sorgen?

Die Möglichkeiten dazu liegen bei den Plattformbetreibern, den Regulierungsbehörden und natürlich bei den Nutzern*innen selbst. Ganz klar spielen die Nutzer*innen eine zentrale Rolle, nur sind eben »alle Nutzer*innen von Facebook« inzwischen eine sehr große und heterogene Gruppe. Das ist etwa so, also würde man einen einheitlichen Standpunkt von allen Rechtshänder*innen oder von allen Jogger*innen erwarten.

Zugleich kann man nicht unbedingt davon sprechen, dass die Stimmung im Netz tatsächlich schlechter ist, als sie es einmal war, sondern höchstens davon, dass das Netz inzwischen sehr vielen Menschen eine Stimme gibt – inklusive solchen, die zuvor nicht gehört wurden, etwa auch, weil sie politisch extreme Standpunkte vertreten. Und schließlich ist Wut lauter als Zufriedenheit und wird stärker wahrgenommen.

Ein wichtiger Aspekt für mich und für unser Projekt ist, inwieweit das Design digitaler Plattformen polarisierte Debatten noch verschärfen kann. Weil etwa für Facebook als Unternehmen das Engagement in Form von Kommentaren oder Likes ein Erfolgsindikator ist, sind manche Diskurse möglicherweise extremer, als sie es sonst wären.

Welche Rolle können Algorithmen spielen, um ›digitale‹ Empathie zu erlernen?

Ganz normale Empathie reicht schon – und ich denke, die erreicht man eher durch die alltägliche Sozialisation als durch Algorithmen. Aber es ist sicherlich vorstellbar, dass Algorithmen langfristig auch für sozial progressive Interventionen eine Rolle spielen könnten. Öffentlich-rechtliche Algorithmen, wenn man so will.

Verstärken die sozialen Medien Hass oder Mitgefühl? Oder macht das Netz Hass oder Mitgefühl nur deutlicher spürbar?

Das ist sicherlich individuell sehr unterschiedlich. Eindeutig existieren sowohl Formen des Hasses als auch der Anteilnahme im Netz, die ohne bestimmte technische Grundlagen so nicht denkbar wären, etwa bei Naturkatastrophen oder Unglücksfällen. Zugleich führt die stärkere Sichtbarkeit aber auch dazu, dass diese Phänomene insofern überschätzt werden, als dass man Nichtanteilnahme ja nicht sehen oder messen kann. Die sozialen Medien suggerieren zum Teil eine größere Polarisierung, als auf anderem Wege tatsächlich festgestellt werden kann.

Wie schätzt du die Macht der Algorithmen bei unserer Kommunikation ein?

Zunächst muss man klären, was genau man in diesem Zusammenhang als Algorithmus betrachtet und was nicht – und dann, was man unter Macht versteht. Algorithmen sind nicht insofern mächtig, als dass sie unsere Einstellungen über Nacht umdrehen können, sondern dadurch, dass wir sie gar nicht wahrnehmen. Sie wirken dort, wo wir sie nicht vermuten. Um ein konkretes Bespiel zu liefern: Viele Menschen glauben, dass ihre Freunde sie weniger mögen als früher, wenn ihre Beiträge bei Facebook weniger Likes erhalten, auch wenn in Wahrheit der Grund dafür darin besteht, dass die Freunde die eigenen Beiträge vielleicht nicht angezeigt bekommen, weil der Newsfeed-Algorithmus seine Selektionskriterien verändert hat. Solche Rationalisierungen – meine Freunde mögen mich nicht mehr – finden deshalb statt, weil die Selektion durch den Algorithmus praktisch unsichtbar ist.

Gibt es Momente, in denen du wegen des rauen Tons, der im Netz manchmal herrscht, ungern vernetzt bist?

Eigentlich nicht, weil ich davon in meinem persönlichen Umfeld wenig mitbekomme. Anders sieht es aus, wenn ich mich durch die Arbeit mit solchem Material beschäftige. Das ist mitunter ernüchternd, aber auch wichtig. Als Wissenschaftler muss einen das interessieren.

Siehst du Felder, auf denen uns das Netz empathischer macht? Gibt es Strategien, welche die Empathie im Netz fördern könnten?

Die genannte Solidarität bei Katastrophen oder Terrorangriffen ist ein gutes Beispiel, welches verdeutlicht, dass diese Möglichkeiten der Kommunikation als Teil einer immer stärker globalisierten Öffentlichkeit zu werten sind. Sicherlich sind die unmittelbaren lokalen Bezüge für die allermeisten Menschen das, was wirklich zählt, aber das Interesse an Menschen, die geografisch weit von uns entfernt sind, wächst durch digitale Kommunikationswerkzeuge wie Twitter und Facebook eindeutig. Und schließlich ermöglicht das Netz auch Formen der Anteilnahme am Schicksal von engen Freund*innen oder Verwandten, die es sonst nicht gäbe.

Info: Dieses Interview ist Teil einer Reihe von insgesamt 15 Interviews und wurde letzten Sommer im Rahmen eines Buchprojektes geführt.

Interview mit Nele Heise

Foto: Lotta Heise

Foto: Lotta Heise

Du bist Medienforscherin und im Netz zu Hause. Was schätzt du an der vernetzten Kommunikation?

Ehrlich gesagt: alles. Also fast alles. Ohne die Möglichkeiten digitaler Kommunikation könnte ich schlichtweg meine Arbeit nicht machen. Ich hätte aber zum Beispiel auch nicht so ein tolles Netzwerk von Kolleg*innen auf der ganzen Welt und könnte mich weniger schnell darüber informieren, an welchen Projekten und Themen sie so arbeiten. Vernetzte Kommunikation hilft mir, Veränderungen und bestimmte Entwicklungen, aber auch Probleme oder Konflikte in der digitalen Gesellschaft zu erkennen und ein Stück weit zu verstehen, unter anderem, weil sie Einblicke in mir fremde Lebenswelten ermöglicht. Das Netz bereichert meine Arbeit also immens und gibt mir außerdem die Möglichkeit, mich in Debatten einzuschalten, sie anzustoßen oder auf Themen aufmerksam zu machen. Über Plattformen wie Twitter kann ich mit Menschen außerhalb der Wissenschaft in Kontakt kommen, die mit meiner Forschung zu tun haben und mit denen ich sonst kaum Berührungspunkte hätte. Oder ich kann auf spannende Forschung und Quellen hinweisen, die sonst kaum jemand wahrnehmen würde. Dieser Austausch »zwischen den Welten« und dabei für verschiedene Menschen ansprechbar zu sein, das ist mir sehr wichtig. Da sehe ich mich nicht nur als Beobachterin, sondern auch als Vermittlerin. Und gleichzeitig macht es mir einfach eine Menge Spaß, im Netz mit neuen Tools zu experimentieren oder zu zeigen, dass ich mehr bin als die seriöse Forscherin (auch wenn das in der Wissenschaft vielleicht nicht alle gut finden). Nicht zuletzt hätte ich ohne das Netz nicht so spannende Forschungsfelder, und das wäre wirklich schade.

Warum schätze ich nur fast alles an der vernetzten Kommunikation? Das liegt daran, dass sie manchmal anstrengen und überfordern kann – im Berufsalltag wie im Privatleben. Erst recht, wenn sich beides nicht mehr so recht trennen lässt. Oder wenn man – wie ich – ganz bewusst in digitale Kulturen eintaucht, um sie »von innen« heraus zu verstehen und zu erforschen. Das ist eine der großen Herausforderungen vernetzter Kommunikation für uns alle, und bei vielen Konflikten, die sich daraus ergeben, stehen wir, glaube ich, mit der Suche nach Lösungen und neuen Umgangsweisen erst am Anfang.

Es scheint, dass wir uns daran gewöhnt haben, unsere Beziehungen digital zu führen. Machen uns digitale Beziehungen glücklicher?

Vielleicht machen uns digitale Beziehungen nicht notwendigerweise glücklicher als »analoge« Beziehungen. Aber digitale Kommunikationstools erweitern das, was Beziehungen sind, was sie ausmacht und wie wir sie heute leben können. Wenn man zum Beispiel an Fernbeziehungen denkt, dann haben Tools wie Skype oder Messenger die Qualität solcher Beziehungen sicher (in der Regel positiv) verändert. Oft sind digitale Tools eine Ergänzung für bestehende Beziehungen, was eine Bereicherung sein, aber auch für Konflikte sorgen kann. Weil manche Botschaften leichter mal missverstanden oder falsch gedeutet werden. Weil man sich gegenseitig mit einem Zuviel an Kommunikation auf den Senkel geht oder die Kommunikation zu einseitig verläuft. Und nicht zuletzt gibt es im Digitalen vielleicht mehr Möglichkeiten, einander zu beobachten und zu »überwachen«, was mitunter negative Gefühle wie Eifersucht verstärken kann. Pauschal sagen lässt sich das also nicht – den Gebrauch von digitalen Medien muss jedes Paar für sich aushandeln.

Für Menschen, denen es normalerweise schwerfällt, auf andere zuzugehen, die sich in ihrem unmittelbaren Umfeld isoliert fühlen, denen Möglichkeiten fehlen, Beziehungen aufzubauen oder anzubahnen, können digitale Kanäle ihr Leben positiv beeinflussen. Sie haben zum Beispiel nicht mehr das Gefühl, allein zu sein, oder trauen sich durch den Kontakt zu anderen auch im Analogen mehr zu. Wenn du zum Beispiel als junger Mensch irgendwo auf dem Dorf lebst und dich nicht outen kannst, dann kann der Austausch mit anderen im Netz dazu führen, dass du deinen Alltag anders erlebst und vielleicht sogar selbstbewusster mit dieser Situation umgehst.

Es kommt also – wie immer – darauf an, wie und aus welchen Gründen man digitale Kommunikation nutzt oder eben nicht. Und vielleicht sollten wir uns generell häufiger mal die Zeit nehmen, darüber nachzudenken, wann und wieso uns digitale Beziehungen glücklich oder unglücklich machen, welchen Stellenwert sie in unserem Leben haben und wann wir sie als bereichernd und wann als defizitär erleben.

Im Netz trauern wir oft lauter, wenn ein Künstler oder Politiker gestorben ist. Ist diese Art von Trauer überhaupt echt?

Ich würde da grundsätzlich zwischen Trauer und Anteilnahme unterscheiden: Trauer ist für mich sehr individuell, im Netz zeigt sie sich unglaublich facettenreich, in der Trauer um geliebte Menschen, Kolleg*innen, Haustiere bis hin zu Held*innen der Popkultur, zu denen man eine enge Verbindung fühlt (ja, dazu würde ich zum Beispiel auch Serienfiguren zählen). Das kann auch in ganz kleinem Kreis stattfinden, vielleicht in einer privaten Gruppe auf Facebook oder durch kleine Symbole wie die Veränderung eines Profilbilds. Worauf die Frage anspielt, würde ich eher als Anteilnahme verstehen: Oft kennen wir die Verstorbenen nicht persönlich, aber nehmen teil an einer Art kollektivem Ausdruck von Verlust und dem gemeinsamen Erinnern, durch das Posten von Momenten, Zitaten usw., weil wir uns ihrer Bedeutung bewusst sind oder sie tatsächlich unser Leben berührt haben. Diese Art der Anteilnahme geht im Netz vielleicht vielfältiger und global vernetzter als offline. Und dadurch wird sie eben auch sichtbarer – oder wie du sagst: »lauter«. Der Eindruck, dass diese Anteilnahme nicht ganz so echt ist, entsteht vielleicht dadurch, dass sie mittlerweile stark ritualisiert ist und wir eigentlich jedes Mal, wenn bekannte Personen sterben, schon mit bestimmten (Standard-)Reaktionen rechnen. Und vielleicht fühlen wir uns dadurch manchmal auch quasi dazu genötigt, unsere Anteilnahme nach außen darzustellen und dabei möglichst kreativ zu sein, statt still für uns innezuhalten.

Da kann ich schon verstehen, dass einige solche kollektiven Rituale als unangemessen, unpersönlich oder fake empfinden. Ich würde mir aber nie anmaßen, die »Echtheit« von Trauer und Anteilnahme anderer zu bewerten. Eine Grenze ist für mich allerdings erreicht, wenn die Anlässe instrumentalisiert werden. Wenn also zum Beispiel Firmen oder politische Akteure den Tod einer bekannten Persönlichkeit nutzen, um durch Clickbait Werbung für sich zu machen oder Aufmerksamkeit für ihre politischen Positionen und Zwecke zu erlangen. Das halte ich für problematisch und falsch – ich würde es aber auch außerhalb des Netzes unredlich finden.

Nach Anschlägen oder anderen Katastrophen werden viele von uns zum Medienkritiker und -experten. Wird sich das eines Tages einpendeln?

Zunächst einmal ist öffentlich Kritik zu üben über digitale Kanäle natürlich viel leichter geworden, und es können sich potenziell mehr Menschen äußern – egal, ob sie Laien oder Experten für ein Gebiet sind. Und in der Masse trägt das bei solchen Ereignissen zu einem gewissen reflexhaften Grundrauschen bei. Das ist häufig erregt, redundant, leider meist nicht gerade differenziert – und, wie ich finde, mittlerweile ziemlich erwart- beziehungsweise vorhersehbar. Das heißt aber natürlich nicht, dass die Kritik substanzieller oder automatisch gerechtfertigt ist (sieht man gerne mal bei selbst deklarierten »Medienexperten«). Und schon gar nicht, dass jede Form der Kritik akzeptabel wäre: Wer zum Beispiel ernsthaft von »Lügenpresse« spricht oder einzelne Medienvertreter persönlich angeht, kritisiert in der Regel nicht, hat eher wenig Ahnung und macht nur selten konstruktive Vorschläge.

Wir befinden uns jedenfalls in einer Umbruchphase, und die Bedingungen für Journalismus haben sich stark verändert. Vielen Medienmenschen fällt es, glaube ich, noch schwer anzunehmen, dass ihre Arbeit verstärkt unter Beobachtung steht und Fehler sichtbarer sind. Diese Haltung ist vielleicht nicht immer besonders förderlich, was den Umgang mit Kritik angeht. Andererseits wissen viele User kaum etwas darüber, wie Medien arbeiten, sehen ihre Meinungen nicht repräsentiert oder meinen vielleicht sogar, sie könnten es besser. Und diese Konstellation kann natürlich gerade in Situationen, in denen alles ganz schnell gehen muss, Bilder und Einordnungen verlangt werden, obwohl noch vieles im Unklaren ist, ziemlich fatal sein.

Kritik und das Aufzeigen von Grenzüberschreitungen sind wichtig, und soziale Medien können ein Weg sein, um Veränderungen einzufordern. Ich persönlich finde aber nichts langweiliger als die immer gleiche undifferenzierte Häme über Verfehlungen von »den Medien«, gerade von Menschen, die nicht dazu bereit sind, sich ernsthaft mit den dahinter liegenden Bedingungen auseinanderzusetzen. Oder auch mal konstruktive Vorschläge zu machen. Hier würde ich mir mehr fundierte Kritik und Einordnung wünschen, wie es zum Beispiel einige Watchblogs, Podcasts oder auch manche Kollegen aus der Medienethik tun. Dann braucht es vielleicht auch mehr Mut und Offenheit von Medienmachern, ihre Arbeit zu erklären, Fehler einzugestehen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Letztlich stehen wir auch immer öfter vor Situationen, für die es noch gar keine Best Practice oder Spielregeln gibt und wo die Aushandlung von Normen in der Medienlandschaft den technologischen Entwicklungen (zum Beispiel Drohnenkameras oder Livestreams) hinterherhinkt.

Manches, glaube ich, pendelt sich sogar schon langsam ein, denn wir reagieren ja mittlerweile durchaus etwas differenzierter auf solche Ereignisse. Das sieht man zum Beispiel an Debatten darüber, ob man bestimmte Bilder teilen sollte und welche Rolle auch wir User haben, wenn es um Fragen der Menschenwürde, Verletzung der Privatsphäre usw. geht. In sozialen Netzwerken tragen wir ja selbst zu Öffentlichkeiten bei, und deswegen haben auch wir, finde ich, eine gewisse (ethische) Verantwortung dafür, was wir teilen. Auch wenn Medien wegen ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und Funktion noch mal eine besondere Verantwortung haben, sollte jeder, der Medien kritisiert, vielleicht hin und wieder mal die eigene Nutzung reflektieren. Zum Beispiel, ob wir in bestimmten Situationen nicht selbst reflexhaft ungeklärte Informationen, abstruse Meldungen oder gefakte Bilder verbreiten, um irgendwie Teil des ganzen Rummels zu sein (ist mir bestimmt auch schon mal passiert). Hier hilft vielleicht, mal abzuwarten und sich ein Bild zu verschaffen (wie wir es ja eigentlich von den Medien erwarten). Am Ende des Tages steht es heute, Internet sei Dank, jedem frei, sein eigenes Medium zu starten und es besser zu machen – er muss sich dann aber gegebenenfalls an den eigenen Ansprüchen messen lassen.

Shitstorm, Mobbing, Hetze: Welche Verantwortung hat die Wissenschaft, diese Themen zu beleuchten?

Die Wissenschaft hat hier eine große Verantwortung, finde ich, weil viele Dynamiken und Probleme, die dahinterstecken, Gegenstand unserer Forschung sind. Wie wir mit dieser Verantwortung umgehen, ist nicht unumstritten. Denn dabei geht es um eine ganz grundsätzliche Frage, nämlich welche Rolle Wissenschaft in der Gesellschaft hat. Ob sie sich aktiv in öffentliche Diskurse einschalten, aufklären und einordnen muss. Und wie sie das tun kann. Gerade mein Fach, die Kommunikationswissenschaft, ist bei diesen Themen leider (noch) oft merkwürdig unkommunikativ. Das hat vor allem damit zu tun, wie Wissenschaft funktioniert: Forschung dauert oft lange und ist manchmal etwas langsam für aktuelle Fragen. Objektivität ist ein wichtiges Gut, und wer sich mit klarer Kante öffentlich äußert, wird schon mal mit Argwohn beobachtet oder macht sich in der Community angreifbar. Publizieren innerhalb der Wissenschaft hat in der Regel einen höheren Stellenwert, als in den Medien aufzutauchen oder gar ein Blog zu verfassen – wofür den meisten ohnehin die Zeit und übrigens auch die Erfahrung oder die notwendigen Skills fehlen. Viele Themen sind einfach ziemlich komplex, oder die Forschung kommt zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Daher können und wollen wir manchmal keine einfachen Antworten geben, wie es zum Beispiel von den Medien oft erwartet wird. Und vielleicht fehlt manchen auch der Mut, sich zu äußern, oder das Bewusstsein, dass unsere Arbeit zu Veränderung in der Gesellschaft beitragen kann und sollte. Das sind nur einige Gründe, warum sich nicht mehr Wissenschaftler in öffentliche Debatten einbringen und ihre Forschung mit der Gesellschaft teilen. Ich finde das extrem wichtig und habe mittlerweile auch den Eindruck, dass mehr und mehr Kollegen erkennen, dass soziale Medien usw. nicht nur Räume sind, die wir beforschen und oft ja auch selbst nutzen, sondern an deren Entwicklung – nicht zuletzt in unserem eigenen Interesse – wir mit unserem Wissen teilhaben sollten. Darin sehe ich keinen Widerspruch. Und im Bereich Mobbing zum Beispiel mischt sich Forschung über den Umweg der Medienbildung in Schulen ja durchaus ein, nur wird das vielleicht öffentlich nicht so wahrgenommen.

Verstärken die sozialen Medien Hass oder Mitgefühl? Oder macht das Netz Hass oder Mitgefühl nur deutlicher spürbar?

Soziale Medien machen zunächst einmal Dinge sichtbar(er), keine Frage. Sie – oder vielmehr das, was über soziale Medien transportiert wird, also die Inhalte, aber auch die Art der Kommunikation – können die Ursache für Hass oder Mitgefühl sein. Und zugleich können wir in sozialen Medien und mit ihrer Hilfe unsere Gefühle wie Hass oder Liebe zum Ausdruck bringen. Es ist also ein bisschen ein Henne-Ei-Ding.

Soziale Medien können ein wichtiges Tool sein, um Menschen zu mobilisieren, und Emotionalisierung kann dabei eine entscheidende Rolle spielen. Das heißt, um für bestimmte Dinge (zum Beispiel Petitionen) Aufmerksamkeit zu schaffen, werden sie so verpackt, dass sie uns emotional ansprechen. Gefühlt jedenfalls haben es dabei Dinge, die auf Liebe und Anerkennung bauen, grundsätzlich schwerer. Mal ein Beispiel: Aus dem Journalismus wissen wir, dass das Publikum sich in der Regel viel öfter mit Kritik oder Beschwerden an Medienschaffende wendet als mit positiven Äußerungen oder Zustimmung, die oft einfach eher über ein »Like« oder das »Teilen« signalisiert werden – es gibt ja keinen Grund, sich zu beschweren. Ganz ähnlich, fürchte ich, funktioniert das mit anderen Dingen im Netz: Hass, Wut und Empörung haben ja oft bestimmte (zum Teil irrationale) Ängste oder gefühlte Bedrohungen zur Ursache. Oder sie sprechen unseren Gerechtigkeitssinn an, polarisieren stark oder beziehen sich auf konkrete oder diffuse Feindbilder (»wir« vs. »die anderen«; »rechts« vs. »links« usw.) – all das sind ziemlich starke Treiber, und ich glaube, niemand ist wirklich immun dagegen. Und wenn man weiß, was die Auslöser für Hass und Empörung in bestimmten Gruppen oder Netzwerken sind und wie man diese Dinge kanalisiert, dann lässt sich dieses Potenzial online recht einfach mobilisieren, instrumentalisieren und sogar programmieren, wie man an Hate-Speech-Bots sieht. Und vielleicht nehmen wir diese Auslöser und den leider alltäglichen Hass im Netz generell lauter wahr als Gesten von Mitgefühl – im Journalismus würde man sagen: Eine gute Nachricht ist keine Nachricht.

Soziale Medien sind aber nur bedingt ein Abbild der Wirklichkeit oder davon, was alle so denken (oder fühlen). Das liegt schon allein daran, dass gar nicht jeder sie nutzt (beziehungsweise nutzen kann) oder sich äußert – es gibt ja nicht wenige, die eher beobachten, als sich aktiv einzubringen. Das heißt, Debatten im Netz zeigen bestimmte Ausschnitte und vielleicht auch häufiger extreme Positionen, die im klassischen Mediendiskurs seltener zu finden sind oder ausgefiltert werden, weil sie zum Beispiel gegen Diskursregeln oder demokratische Grundprinzipien verstoßen. In vielen Foren, Blogs usw. gibt es nicht immer ein Korrektiv, keine Gatekeeper oder Versuche, zu moderieren und vielfältige Meinungen abzubilden. Das ist auch an sich völlig okay. Ich denke, nur wer sich nur in bestimmten Gruppen bewegt oder nur mit Gleichgesinnten umgibt, für den wirken die Meinungen oder Ansichten in solchen Zirkeln wie in einer Art Echokammer mitunter verstärkend – das ist außerhalb des Netzes zunächst erst mal nicht anders (Stichwort Stammtisch). Ich glaube aber, dass das Netz Menschen weitaus mehr Möglichkeiten bietet, sich ortsunabhängig zu vernetzen, zu organisieren und sich gegenseitig in ihren Positionen und ihrer Gruppenzugehörigkeit zu bestärken. Wenn man dann noch die Empörungs- und Wutdynamiken dazunimmt, führt das schlimmstenfalls zu einer Radikalisierung. Sofern diese sich gegen bestimmte Personengruppen richtet, halte ich die Verstärkungseffekte des Netzes für extrem besorgniserregend.

Aber: Es gibt auch viele Beispiele für positive Mobilisierung und Solidarisierung, wie das Hashtag #Offenetüren in München gezeigt hat, und Momente der geteilten Freude, Anteilnahme und Empathie. Die sind vielleicht einfach seltener, aber wie ich finde umso eindrücklicher und machen Mut. Diese Stärke der vernetzten Kommunikation sollten wir uns immer wieder vor Augen halten. Wir sollten den Wutmachern weniger auf den Leim gehen, indem wir uns von ihnen provozieren und auf diese Weise einspannen lassen, um ihre Botschaften zu verbreiten. Wir sollten lieber anfangen, unsere Zeit, Energie und Kreativität auf Taktiken und Interventionen gegen den Hass zu richten, und jene, die dem Hass Raum bieten, an ihre Verantwortung erinnern.

Wie schätzt du die Macht der Algorithmen bei unserer Kommunikation ein?

Wow, das ist ein breites Feld! Die »Wirkmacht« von Algorithmen auf die Art und Weise, wie wir kommunizieren, ist durch die Digitalisierung vieler Lebensbereiche (Medizin, Wirtschaft, Medien, Politik usw.) natürlich unbestreitbar – jedes Computerprogramm und digitale Tool basiert auf Algorithmen. Algorithmen beeinflussen, wie wir online an Informationen gelangen, welche Inhalte uns empfohlen oder welche Freundschaften uns vorgeschlagen werden. Bis hin zur Art und Weise, wie wir im Netz uns und unsere Identität darstellen oder welche Inhalte wir publizieren können. Algorithmen haben also durchaus einen immensen Einfluss auf unser digitales – und letztlich auch analoges – Leben. Die allermeisten User nehmen das nicht bewusst wahr, was ja auch durchaus so gewollt ist, oder sie wissen gar nicht, dass Umgebungen wie Facebook von Prozessen im Hintergrund gefiltert werden. Das bringt einige Probleme mit sich, wenn zum Beispiel das Ranking von Suchergebnissen als neutral angesehen und nicht hinterfragt wird oder wir nur noch mit Inhalten konfrontiert werden, die unseren Präferenzen entsprechen (Stichwort Filter Bubble), ohne genau zu wissen, warum. Andererseits brauchen wir Algorithmen, um uns in der Flut von Inhalten und Informationen im Netz zurechtzufinden – sie erfüllen also auch sehr wichtige Aufgaben, ohne die wir viele Funktionen digitaler Medien gar nicht nutzen könnten.

Wichtig ist, dass wir uns darüber im Klaren sind, dass Netzanwendungen keine neutralen Oberflächen sind – ihre Funktionen und die dahinterliegenden Algorithmen werden von Menschen programmiert, beeinflusst und verändert. Das können zum Beispiel einzelne Designer, Unternehmen oder auch Staaten sein, die persönliche Wertvorstellungen, kommerzielle oder politische Ziele in die Anwendungen »einschreiben«. Gerade bei so wichtigen Anwendungen wie Suchmaschinen haben diese Akteure also große Macht, was unter anderem deshalb so problematisch ist, weil die Prozesse kaum transparent sind, oft auf Vorurteilen der Gestalter basieren und wir als User die Entscheidungen von Algorithmen kaum verstehen oder hinterfragen, geschweige denn ihr Design beeinflussen können. Das kann zu einer unfairen Diskriminierung und Benachteiligung führen, weil man zum Beispiel ein bestimmtes errechnetes Profil (nicht) erfüllt, oder sogar zur Manipulation öffentlicher Meinung, wie man etwa an Social Bots sehen kann.

Das alles sind Dinge, die erst allmählich in den Fokus öffentlicher Debatten rücken, und neben Hackern, Journalisten, Politikern oder Rechtsexperten haben natürlich auch wir Wissenschaftler eine wichtige Aufgabe, auf Probleme hinzuweisen und Lösungsvorschläge zu machen. Wie man sieht, die »Macht« von Algorithmen ist komplex, vielfältig und schwer greifbar, sie hat aber immer mit Menschen zu tun. Nicht zuletzt spiegeln viele Algorithmen auch unser eigenes Nutzungshandeln wider, und daher sind auch wir als User von Plattformen und als Teil der Zivilgesellschaft gefragt, Kontrolle, Transparenz und Fairness zu fordern, zu hinterfragen und über Alternativen nachzudenken.

Gibt es Momente, in denen du wegen des rauen Tons, der im Netz manchmal herrscht, ungern vernetzt bist?

Erst einmal muss ich sagen, dass sich die »Sphären«, in denen ich im Netz unterwegs bin, voneinander unterscheiden. Und zwar darin, wie öffentlich sie sind und mit wem ich es da zu tun habe. Ich versuche, das bewusst zu steuern, indem ich zum Beispiel mein Instagram-Profil auf privat geschaltet habe, um mehr Kontrolle darüber zu haben, wer diese Bilder sehen kann. In den Netzwerken, die ich mir so geschaffen habe, geht es glücklicherweise in aller Regel sehr fröhlich, »gesittet« (also: respektvoll im Umgang miteinander) und fair zu. Da wird es dann auch akzeptiert, wenn ich mich aus Diskussionen ausklinke oder auch mal einen bestimmten Ton einfordere.

Den »rauen Ton« nehme ich viel öfter wahr, wenn ich Unbekannte und deren Kommunikation beobachte, beispielweise was so unter bestimmten Hashtags, in Kommentarbereichen oder auf den Facebook-Seiten von Medien abgeht. Dass andere Menschen zu Themen andere Meinungen haben, geschenkt. Was mich daran aber oft geradezu entsetzt, ist, dass scheinbar viele der Ansicht sind, es wäre im Netz okay, anderen mit Aggressivität, Konfrontation oder Herabwürdigung zu begegnen, bis dahin, andere regelrecht zu »entmenschlichen«. Ich tue mir das mittlerweile nicht mehr oft an, denn diese Unart des Umgangs kann ich kaum aushalten – nicht nur wegen des Tons, sondern auch wegen der Vorhersehbarkeit, Redundanz, Irrationalität und der vielen Zeit und Energie, die damit verschwendet wird. Vielleicht lernt man mit der Zeit, eine gewisse Distanz dazu aufzubauen oder diesen »Gefilden« tatsächlich einfach aus dem Weg zu gehen, um nicht an der Welt zu verzweifeln und um des eigenen geistigen und emotionalen Wohlbefindens willen. Aber manchmal wäre ich schon gerne etwas mutiger, und sei es nur, um anderen beizustehen und die Verachtung nicht den Diskurs bestimmen zu lassen.

Grundsätzlich glaube ich, dass jeder sicher seine eigenen Grenzen oder Erwartungen hat, wie Diskussionen abzulaufen haben. Aber der »raue« Ton vieler Online-Debatten kann toxisch wirken, und das macht mir Sorge. In einem Forschungsprojekt haben wir zum Beispiel herausgefunden, dass viele Menschen sich vor allem am Ton und Niveau von Debatten stören. Gerade YouTube schnitt hier schlechter ab als andere Kommunikationsplattformen; dies verwundert nicht, da es für seine teils drastische, enthemmte Kommentarkultur bereits berüchtigt ist. Ein sinkendes Niveau und ein verletzender Ton können dazu führen, dass sich Menschen erst gar nicht an Debatten beteiligen möchten oder sich nicht trauen, ihre Stimme einzubringen. Das kenne ich auch von mir – an Diskussionen zu bestimmten Themen nehme ich gar nicht erst teil beziehungsweise einige Themen spreche ich nicht an.

Wenn Diskurse also von Personen dominiert werden, die sich in Debatten mit bestimmten Mitteln durchsetzen können und es dadurch schaffen, andere auszugrenzen, finde ich das schwierig. Besonders wenn es als Strategie genutzt wird, um Menschen abzuwerten, ihnen das Rederecht abzusprechen oder durch Missbrauch von Diskursmacht stumm zu schalten. Da setzen sich aber leider im Grunde viele Mechanismen fort, die wir aus der »Offlinewelt« kennen, und wo das Netz (bislang) nur bedingt dazu beiträgt, dass ein Diskurs stattfindet, in dem alle Stimmen zu Wort kommen (können). Dazu kommt, dass die Grenze zwischen »rauem Ton«, Hate Speech und Missbrauch teilweise fließend ist und oft zu wenig unternommen wird, diese Grenzen klar aufzuzeigen – nicht nur ethische, sondern auch rechtliche. Hier sind aber alle in der Verantwortung, insbesondere diejenigen, die Diskussionsräume, zum Beispiel Kommentarbereiche, anbieten, eine nichttoxische Kommunikationskultur zu fördern und einzufordern. Das kann zermürbend, mühselig und aufwändig sein oder auch mal schmerzlich, wenn man zum Beispiel eigene Kontakte oder Freunde auf Grenzüberschreitungen hinweisen muss. Aber nur so geht’s.

Stimmst du der These zu, dass wir durch die Kommunikation im Netz gefühlsmäßig abstumpfen?

Nein, beziehungsweise es kommt darauf an :-). Ich glaube schon, dass die Kommunikation im Netz sich an einigen Punkten davon unterscheidet, wie wir im Alltag »offline« miteinander umgehen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass digitale Kommunikation nicht automatisch alle Signale transportiert, die wir Menschen als Informationen im »Analogen« zur Verfügung haben (Gerüche, Gesichtsausdrücke usw.), und wir meistens textbasiert miteinander kommunizieren. Damit fehlen uns einige Hinweise, die wichtig sind, um die Gefühle anderer zu »lesen«, aber auch, um unsere eigenen Gefühle für andere wahrnehmbar zu machen. Andererseits glaube ich, dass es für manche Menschen gar nicht so leicht ist, Gefühle zu zeigen, und für diese können digitale Mittel vielleicht ein Weg sein, sich auszudrücken und zu öffnen. Für sie kann die Kommunikation im Netz unter Umständen also eine Bereicherung ihrer Gefühlswelt sein.

Was ich nicht glaube, ist, dass uns Kommunikation im Netz gefühlsmäßig zum Beispiel weniger verletzen oder berühren kann. Im Gegenteil: Phänomene wie Cyberbullying oder -mobbing zeigen ja ziemlich deutlich, dass Kommunikation über digitale Wege starke Auswirkungen auf unsere Gefühlswelt haben kann. Die Konfrontation mit drastischen Bildern, die uns schockieren, emotional aufwühlen, mit Traurigkeit erfüllen. Oder Katzenvideos, die uns zum Lachen bringen – das sind ja ganz reale Gefühle. Die Ansicht, dass es einen klaren Unterschied zwischen analog/digital gibt, war leider lange verbreitet, und erst allmählich fangen wir an, uns mit den emotionalen Auswirkungen von Netzkommunikation auseinanderzusetzen und sie besser zu verstehen. Das sehr umstrittene »Facebook-Experiment«, in dem ansatzweise gezeigt wurde, dass die Gefühle, die über die Inhalte transportiert werden, einen Einfluss auf uns haben und »ansteckend« sein können, ist nur ein Beispiel. Oder die Diskussion um die Menschen, deren Job es ist, krasse Inhalte auszufiltern, und die mit den gesundheitlichen und emotionalen Folgen oft alleine gelassen werden.

Was mir dazu noch einfällt: Wir nutzen heute mehr Medien als je zuvor, und gerade über das Netz sind wir mit immer mehr Informationen, Bildern, Videos usw. konfrontiert, die uns oft auch ziemlich ungefiltert erreichen. Wenn du zum Beispiel an Livestreams von gewalttätigen Ereignissen denkst, Naturkatastrophen oder Bilder aus Kriegsgebieten, die klassische Medien niemals in dieser Form publizieren würden – nicht immer können wir uns davor schützen, weil sie irgendwie in unsere Timelines gespült oder nicht ohnehin gelöscht oder gesperrt werden. Und dann gibt es ja immer noch diesen gewissen Voyeurismus oder die Neugierde, die dazu führt, dass wir uns diesen Bildern aussetzen. Da hat aber sicher jeder ganz eigene Schmerz- und Belastungsgrenzen, und vielleicht verschieben sich diese Grenzen, wenn solche Inhalte jederzeit, massenhaft verfügbar sind und scheinbar »Normalität« werden.

Ich glaube aber dennoch nicht, dass dies für uns »normale« User, die nicht permanent damit konfrontiert sind, allgemein ein Abstumpfen bedeutet. Sondern die Frage ist eher, welche Strategien wir entwickeln, um mit dieser Überforderung umzugehen, bestimmte Eindrücke zu verarbeiten und gegebenenfalls nicht zu nah an uns ranzulassen. Und dazu gehört auch, beim Teilen von Inhalten die Grenzen anderer anzuerkennen (zum Beispiel mit »trigger warnings«), sich auch mal Zeit zu nehmen, bevor man etwas anklickt oder teilt, und sich Inhalten nicht weiter auszusetzen, wenn es zu belastend wird.

Siehst du Felder, auf denen uns das Netz empathischer macht? Gibt es Strategien, welche die Empathie im Netz fördern könnten?

Das Netz bietet eigentlich so viel Raum und beispielsweise erzählerische Möglichkeiten, um Empathie in uns hervorzurufen. Wenn man an Videos, Texte oder Geschichten denkt, die uns die Lebensrealität etwa von benachteiligten Personen begreifbar machen, die sonst kein Sprachrohr haben oder kaum sichtbar sind, oder die uns Ungerechtigkeiten im Alltag zeigen. Wie das funktioniert, sieht man ja manchmal, wenn emotionale Inhalte oder berührende Geschichten viral gehen, denn oft sind das Dinge, in denen wir uns wiedererkennen können.

Ein großes Problem ist sicher, dass digitale Medien und vor allem Social-Media-Plattformen wie Twitter, Facebook oder YouTube so unglaublich viele, teils sehr verschiedene Menschen in Kontakt bringen. Wenn man es mit Millionen, teilweise anonymen Usern zu tun hat, stoßen wir mit der Forderung nach einem ethischen, empathischen Umgang miteinander an eine Grenze. Das heißt auf gar keinen Fall, dass Anonymität per se schlecht ist. Aber es fehlen uns einfach im Netz oftmals Hinweise darauf, wer der andere ist, was er fühlt, wie es ihm gerade geht usw., die wir im Alltag an unserem Gegenüber beobachten können. Ich denke, diese Einschränkungen digitaler Kommunikation führen nicht nur manchmal zu Missverständnissen, sondern können auch zu Enthemmung führen, weil andere User nicht mehr als Menschen, sondern nur als Text auf einem Bildschirm wahrgenommen werden. Und ich glaube, dass uns dadurch auch die Auswirkungen, die unser Handeln auf andere hat, oft verborgen bleiben.

Das heißt, alle Mittel, die uns vergegenwärtigen, dass wir es im Netz miteinander als Menschen zu tun haben, können dabei helfen, Empathie zu fördern. Manchmal sind das Hinweise auf unredliches, negatives Verhalten, manchmal sind es Mittel, die positives Verhalten unterstützen (blödes Beispiel: Herzchen, aber auch Katzenbilder). Auch so etwas wie Gifs oder Emojis können uns dabei helfen, unsere eigenen Gefühle in Räumen zum Ausdruck zu bringen, in denen wir uns ja zunächst erst einmal nur »virtuell« begegnen, und die Gefühle anderer »lesen« beziehungsweise kennenzulernen. Solche Ausdrucksformen sind extrem spannend, weil sie uns auch zeigen können, was uns als Menschen, egal, welcher Herkunft (Sprache, Kultur, Ethnie), verbindet. Sie müssen aber auch gelernt werden, gewissermaßen als Kulturtechniken und »Sprach«-Codes des Netzes. Zur Steigerung von Empathie gehört für mich aber vor allem auch eine Diskussion darüber, wie wir miteinander umgehen wollen, welches Verhalten akzeptabel ist und wo Grenzen überschritten werden. Das kann letztlich nicht nur eine technische oder rechtliche Frage sein, und all jene, die öffentliche Räume schaffen, sind hier in der Pflicht und tragen genauso eine Verantwortung wie wir als User. Ich frage mich aber selbst, wie es gelingen kann, dass wir Tools und Spielregeln gestalten, in denen grundlegende Rechte und Normen miteinander in Einklang kommen und auf die man sich einigen und die man als bindend annehmen kann. Die Möglichkeiten der vernetzten Kommunikation sind ja eigentlich noch recht jung und sorgen für einen so gewaltigen Umbruch, dass uns die großen damit verbundenen Probleme erst allmählich bewusst werden und wir als Gesellschaft erst am Anfang der Debatte stehen.

Nicht zuletzt könnte ich als Ethikerin den uralten Spruch »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu« bemühen. Aber auch dafür muss letztlich die Bereitschaft und Fähigkeit zu Empathie bei den Usern da sein. Menschen, die bewusst verletzten, Dialog (zer-)stören oder einfach ihren Hass auskippen möchten beziehungsweise das Netz als Ort ansehen, an dem sie ungestraft ihren Frust loswerden können, scheint es ja leider viele zu geben. Vielleicht fällt uns das im Alltag nur nicht so auf, oder wir können es leichter ausblenden. Ob es fruchtet, diesen Leuten die Konsequenzen ihres Handelns aufzuzeigen und sie zu sanktionieren, daran habe ich, ehrlich gesagt, Zweifel.

Info: Dieses Interview ist Teil einer Reihe von insgesamt 15 Interviews und wurde letzten Sommer im Rahmen eines Buchprojektes geführt.

Interview mit Christoph Kappes

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Du bist Jurist und hast den digitalen Wandel als Berater mitgeprägt. Hast du Verständnis dafür, dass Medienhäuser ihre Kommentarfunktion sperren lassen?

Ja, weil es Arbeit ist und es belastet, sich beschimpfen zu lassen. Nein, weil Kritik zur demokratischen Öffentlichkeit gehört und, was viele Medienhäuser machen, reine Willkür ist. Sie fallen sogar hinter Google und Facebook zurück, was Transparenz angeht.

Manche Menschen üben Selbstjustiz im Netz und machen die sie stalkende Person öffentlich. Was spricht dafür, was spricht dagegen?

Das muss nicht auf der grünen Wiese neu erfunden werden. Hier zeigt uns glücklicherweise das Recht, was okay ist. Also okay ist es, wenn man Tatsachen behauptet, die man auch belegen kann. In diesem Rahmen glaube ich, dass es immer in Ordnung ist, wenn man Dinge publiziert, solange sie nicht verletzend sind. Da muss man sicherlich aufpassen. Deswegen habe ich grundsätzlich keine Bedenken, wenn Menschen andere beschuldigen, bestimmte Taten begangen zu haben. Ich glaube auch, dass es ein natürliches Verhalten ist, das man nicht effektiv verbieten kann. Man muss sich dann aber dessen gewahr werden, dass die Unwahrheit Konsequenzen hat.

Fotos und Wohnort ins Netz zu stellen ist aus meiner Sicht grenzwertig. Und ich glaube, das wäre jenseits der Okay-Grenze. Es gibt auch Fälle in der Politik, dass zum Beispiel Vertreter der Antifa in Hamburg AfD-Politiker mit ihren Daten öffentlich machen, oder das, was in der IT-Szene doxen genannt wird: das Veröffentlichen der Dokumente von Personen. Das geht aus meiner Sicht einen Schritt zu weit, weil es die Person nicht in ihrer Rolle lässt, die sie in dieser Funktion hat. Ich glaube, dass man in dieser Hinsicht mit gewisser Vorsicht agieren muss.

Das bedeutet, Selbstjustiz hat Grenzen. Man darf auch keine Mails oder Briefe veröffentlichen?

Ob man Briefe veröffentlichen darf, da bin ich mir nicht so sicher. Ich könnte mir vorstellen, dass auch das einer Art Briefgeheimnis unterliegt [schmunzelt], weil beide Seiten davon ausgehen können, dass es nicht ohne Weiteres veröffentlicht wird, wenn es sich nicht um öffentliche Personen handelt. Die Rechtslage ist mir jetzt ad hoc gar nicht klar. Aber sozial und ethisch ist das schon im Grenzbereich, eine Information zu veröffentlichen, bei der die andere Seite davon ausgehen kann, dass diese nicht veröffentlicht wird. Deswegen ist das Mitschneiden von Telefonaten strafbar, und deswegen gibt es ein Briefgeheimnis. Es gibt schon auch eine Kultur, dass bestimmte Kommunikationsmittel eben als Kommunikationsmittel geschützt sind.

Es gibt immer auch das Risiko, dass man in seinem eigenen Urteil – auch wenn die Wahrscheinlichkeit noch so gering ist – schiefliegt. Gerade wenn es im digitalen Raum passiert, in dem Leute mit Pseudonymen oder anonym operieren. Und wer dann andere motiviert, sich mit dem Opfer zu solidarisieren, indem man den potenziellen Täter angreift, der muss sich das auch zurechnen lassen.

Wir haben gerade so einen Fall, wenn es um Jakob Appelbaum geht. Auch bei diesem Fall sind die Meinungen im Netz sehr gespalten: Ob er Menschen schikaniert, ob er sich Frauen gegenüber übergriffig verhalten hat oder womöglich versucht hat, sie zu vergewaltigen, oder sie sogar vergewaltigt hat. Da gibt es unterschiedliche Meinungen. Die Konstellation ist natürlich schwierig, weil diese Person dann auch Schaden für den Fall ihrer Unschuld nimmt, wovor der Rechtsstaat sie auch nicht mehr schützen kann. Das kann auch das Gericht nicht mehr wirklich heilen, es bleibt immer etwas kleben.

Manche Menschen werden im Netz bei Medienkatastrophen zu Kritikern. Wie lange brauchen wir noch, bis wir im Netz nicht drauflosspekulieren oder andere belehren?

Auch mir hat es lange Zeit nicht gefallen, dass der Kritikpegel so hoch ist. Ich habe das als negativ und abstoßend empfunden. Aber heute habe ich mich mit einer etwas anderen Sicht angefreundet. Kritik kann sehr positiv sein und in Gänze auch eine Art Klärungsmechanismus darstellen. Und dass man schlecht über Sinn und Unsinn von Kritik diskutieren kann, wenn ein Medium in die Welt gekommen ist, das eben genau dies im Überschuss ermöglicht.

Deshalb weiß ich nicht, ob man die Frage überhaupt so herum stellen kann, dass man vom Übermaß der Kritik spricht. Ich glaube eher, dass sich mit dem Internet die Möglichkeit ergeben hat, dass jeder alles kritisieren kann. Dass die Dinge im Zweifel transparenter werden, als sie manche haben wollen. Also nur im Zweifel, nicht immer. Und dass Kritik ein Prozess ist, in dem man auch Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge steuert. Also, wo Menschen sagen: »Musste dieser Shitstorm sein, das ist doch jetzt irrelevant, und warum müssen sich noch mal 100 Leute dazu äußern, dass dieses oder jenes passiert ist?«, glaube ich, dass dieser Prozess auf einer sozialen, höheren Perspektive sinnvoll ist.

Nehmen wir ein Beispiel, bei dem ich mich auch kurz aufgeregt habe. In einem Text der Süddeutschen Zeitung machte ein Autor eine mehr als unglückliche Formulierung über kleine Menschen. Das war der Hashtag #KeinZwerg. Wo ich mich auch frage: ›Muss es jetzt sein, dass man sich den ganzen Tag auf Twitter damit beschäftigt, dass diese eine Sache so unglücklich gelaufen ist?‹ Es handelt sich aber um einen sozialen Prozess, dass Betroffene sich artikulieren und die Dinge sagen, die ihnen wichtig sind, und man eine neue gesellschaftliche Vereinbarung darüber trifft oder treffen kann, ob man kleine Menschen noch als Zwerge bezeichnen darf, wie das meine Großmutter immer sehr wohlwollend gemeint hat. Oder ob man das heutzutage eben nicht mehr tut. Also das ist auch ein Teil eines notwendigen Prozesses, dass man dann eben nicht mehr Neger oder Zwerg sagt. Der Prozess kann auch nur stattfinden, wenn er über diesen Mikro-Shitstorm zum Ausdruck gekommen ist.

Das heißt, wir brauchen manchmal einen Shitstorm im Netz?

Ja, natürlich. Ich glaube, der Anlass kann häufig ganz banal sein. Es gibt diesen berühmten Brigitte-Shitstorm, bei dem sich eine Frau darüber mokiert hat, dass 40-jährige Männer, die mit dem Longboard über Bürgersteige fahren, Frauen mit ihren Kinderwagen behindern. Das ist natürlich eigentlich nicht wirklich der Rede wert, weil es sich um einen Einzelfall gehandelt hat. An dieser Stelle kann man jetzt beliebige Standpunkte einnehmen: Man kann der Longboard fahrende Mann sein oder auch die entrüstete Mutter, die den Kinderwagen schiebt. Darum geht es aber nicht, sondern meistens geht es um die Konflikte dahinter. Es geht immer darum, neue soziale Regeln zu finden. Ist es richtig, dass man sich so verhält? Oder ist es nicht richtig? Und ich betrachte das eben so abstrakt, dass ich sage: Es gibt keinen wirklichen Knigge mehr, es gibt auch keine Institutionen mehr wie die Kirche oder die Schule, wo wir lernen, ob wir das dürfen oder ob wir das nicht dürfen. Also wir machen es im Leben eben, und dann geht es manchmal schief. Ich bin ja fast froh darum, dass es jetzt das Internet gibt, wo man im konkreten Shitstorm immer diskutieren kann, ob ich als 40-jähriger Mann mit dem Longboard einfach völlig ohne Grund auf dem Bürgersteig herumrasen darf oder nicht. Oder ist es okay, wenn ich ein zweijähriges Kind mit auf die CeBIT nehme? Das war ein anderer Shitstorm.

Wenn ein Popstar oder eine berühmte Person gestorben ist, trägt das Netz meistens ein bis zwei Tage Trauer. Ist unsere Trauer im Netz an dieser Stelle echt?

Ich weiß nicht, ob man das verallgemeinern kann. Es gibt sicherlich Fans von Stars – also das, was man in der Medienwissenschaft auch parasoziale Interaktion nennt, dass man eine emotionale Beziehung zu einer Figur entwickelt, die man gar nicht persönlich kennt. Oder die es so vielleicht gar nicht gibt. Wo genauso wie der Aufbau der Bindung und die Vorstellung von dieser Person eine Projektion ist, wie umgekehrt der Akt, wenn sie stirbt, eben auch ein emotionaler Ablösungsprozess ist. Das wäre aus meiner Sicht völlig naheliegend. So, wie eine übermäßige Bindung eines Fans an eine projizierte Figur stattfindet wie an Michael Jackson, um ein Beispiel zu nennen, dass der Gegenprozess, wenn sich das Ganze auflöst, auch mit entsprechendem emotionalem Aufwand geschieht.

Ich finde es naheliegend, dass dies echt ist. Nur weil es medial vermittelt ist, ist es ja nicht unecht. Es gibt aber sicherlich auch Ansteckungseffekte, wenn eine gewisse Anzahl von Kontakten auf eine bestimmte Art und Weise kommuniziert, sodass Menschen in ihrem Meinungsbild umkippen und dann auch anfangen mitzumachen. Das sieht man übrigens auch in der physischen Kohlenstoffrealität, wenn Leute anfangen, Deutschland-Fähnchen auf die Autos zu stecken, obwohl ihnen Fußball völlig egal ist und vielleicht auch Deutschland. Sie machen es dann einfach, weil man es tut. Also, was daran jetzt authentisch ist, das vermag ich nicht zu beurteilen, und ich bin ohnehin skeptisch, ob der Begriff der Authentizität zu irgendetwas tauglich ist. Weil er immer unterstellt, dass etwas anders ist, als es aussieht. Aber das kann man von außen ja nicht mit letzter Sicherheit erkennen.

Verstärken die sozialen Medien Hass oder Mitgefühl? Oder macht das Netz Hass oder Mitgefühl nur deutlicher spürbar?

Es gibt Leute, zu denen auch ich gehöre, die dazu neigen zu sagen: Hier wird einfach nur etwas sichtbar, was ohnehin schon da ist. Wenn es zum Beispiel darum geht, rechtsextreme Einstellungen der Bevölkerung im Internet wahrzunehmen, so glaube ich, dass diese vorher schon da waren. Das ist das eine. Natürlich gibt es dann wiederum auch Verstärkungseffekte, dass sich Positionen, wenn sie erst einmal in der Welt sind, fortpflanzen. Und das Üble ist, dass bestimmte Dinge, die sozial bewusst stigmatisiert sind, also das Unsagbare, dass wenn das Unsagbare gesagt ist, die Grenze nach vorne verschoben ist. Ich will jetzt gar kein Beispiel nennen, weil ich dann das Unsagbare sagen würde. Aber eine gewisse Art von Tabuisierung ist eben sozial und kommunikativ auch wichtig: dass man bestimmte Wörter nicht gebraucht und dass man über bestimmte religiöse und soziale Gruppen nicht auf eine bestimmte Art und Weise spricht. Wenn man diese Grenze überschreitet, dann hat das eine gewisse Ansteckungskraft.

In dieser Situation wirkt das Netz verstärkend, weil es durch die Schriftlichkeit die Dinge dauerhaft macht, die sonst verschwunden sind. Also was man um zwei Uhr nachts halb angetrunken in der Kneipe sagt, ist ja bei allen Beteiligten einen Tag später schon wieder vergessen. Das ist beim Internet nicht so. Es bleibt durch die Schriftlichkeit bestehen, und es wird dann leider auch sichtbarer, weil der Kritikmechanismus, der dann ansetzt, eben auch noch einmal die Aufmerksamkeit verstärkt. Ich sage immer, dass Kritik eigentlich Hotspots setzt. Also Kritik an bestimmten Kommentaren, Diskussionen markiert in einem unübersichtlichen Raum von Millionen von Interaktionen die Stellen, die wichtig sind. Das sind Punkte, die unsere Gesellschaft klären muss oder bei denen sie Konflikte hat. Es gibt ja auch in der Soziologie die Konflikttheorie, die eben die Gesellschaft über ihre Konflikte beschreibt.

Wie schätzt du die Macht der Algorithmen bei unserer Kommunikation ein?

Ich tue mich sehr schwer damit, Algorithmen Subjekteigenschaften zuzusprechen. Algorithmen als solche handeln nicht. Oder ich sage mal anders: Autos handeln nicht, trotzdem führen ihre Existenz und ihre Benutzung kausal dazu, dass es Verkehrstote gibt. Zurechnen tue ich das aber entweder den Autofahrern oder den Produktherstellern. In dieser Situation bin ich der Jurist, der sich weigert, ein physisches oder ein gedachtes Ding verantwortlich zu erklären.

Algorithmen sind nötig, sie kommen in verschiedenen Ausprägungen vor. Wir haben sie bei Google, und ohne Google wäre das Internet praktisch unbenutzbar. Bei aller Google-Kritik vergessen viele Leute sich vorzustellen, was passieren würde, wenn es keine Suchmaschine gäbe. Oder was passieren würde, wenn eine Suchmaschine keine Relevanzgewichtung vornehmen würde, sondern die Treffer zum Beispiel chronologisch ausgeben würde. Dann hätten wir einen Internetindex von 1994 mit kaputten Links auf der ersten Ergebnisseite. Dort sind Algorithmen einfach nötig.

Eigentlich ging es bei ihr nur um die Beobachtung, dass bestimmte Personen mit bestimmten politischen Positionen aufgrund des Algorithmus – indem er auf bestimmte Engagements aufsetzt wie Likes, Shares und Kommentare –, zu einer gewissen Veränderung der neu einfließenden News führt. Mehr sagt die Filter Bubble nicht. Sie sagt nicht, dass Menschen jetzt nur noch eines konsumieren, denn es gibt Bereiche, die ohne solche Algorithmen funktionieren. Alles außerhalb von Facebook ist ohne. Und es gibt auch gegenläufige Effekte, die Eli Pariser gar nicht thematisiert hat. Beispielsweise sehe ich, wenn aus meinem – vielleicht sogar extrem homogenen – Freundeskreis jemand anderes an einer für mich unerwarteten Stelle Kritik äußert. Dann sehe ich diese Kritik, weil es ein Kontakt zweiten Grades ist, genauso, wie es umgekehrt passiert. Also ich glaube, es gibt auch gegenläufige Effekte, über die bisher niemand gesprochen hat, die diese Filter Bubble wieder öffnen. Das Problem der Echokammern ist größer. Weil es Probleme in Weltanschauungen gibt, die sich gegen rationale Argumentation und gegen Kritik immunisieren. Das findet sich unter anderem in der ganzen rechtspopulistischen Ecke, in der gerne Verschwörungstheorien genannt werden oder bestimmte Dinge erst recht falsch sein sollen, weil sie ja überall behauptet werden. Stichwort: Lügenpresse. Man markiert im Grunde ein ganzes Mediensystem als grundsätzlich verlogen. Das gibt es aber auch bei Ideologien oder bei bestimmten politischen Positionen, dass man sich gegen Argumente von außen immunisiert.

Ein Beispiel ist der sogenannte Whataboutism, über den viele Menschen stolz sind, ihn vor einigen Jahren entdeckt zu haben. Die Argumentation mit Whataboutism ist mir grundsätzlich verdächtig, weil sie eine Diskussion abschneidet, statt eine These der anderen Seite weiterzuverfolgen. Nehmen wir mal ein Beispiel von Whataboutism: Ich sage, die Currywurst ist zu scharf, daraufhin sagt jemand anderes: Aber Chili con Carne ist doch auch scharf. Da würde man tatsächlich als rational denkender Mensch sagen, was hat denn jetzt um Himmels willen die Currywurst mit Chili con Carne zu tun? Es steht ja auch die Currywurst auf dem Tisch und nicht Chili con Carne. Aber ich glaube, dass man dies wohlwollend als Vergleichsversuch interpretieren und jetzt klären muss, ob der Vergleich gerechtfertigt ist oder nicht. Statt das von vornherein abzuwehren und zu sagen: Das ist Whataboutism, und mit dir rede ich nicht. Das sind die Probleme. Ich glaube eher, dass es ideologische Schutzmechanismen in den Argumentationen sind, die zu Verschließungen und Echokammern führen.

Gibt es Momente, in denen du wegen des rauen Tons, der im Netz manchmal herrscht, ungern vernetzt bist?

Ja, die gibt es häufig. Ich sage aber nicht, dass ich das mal zumache. Das ist keine aktive Entscheidung. Ich mache dann einfach etwas anderes, wie ich auch im Tagesablauf keine aktive Entscheidung treffe, das Essen einzustellen, sondern mich dem Spazierengehen widme.

Das sind Prozesse, die laufen ab, ohne dass man größere rationale Diskussionen mit sich selbst führt. Also wenn es mir zu doof wird, mache ich eben etwas anderes. Ich frage mich häufiger nach dem Sinn dessen, was ich da tue. Wobei ich mich immer damit herausreden kann, dass es mir ja beruflich hilft und ich gewissermaßen forsche, wenn ich bestimmte Beiträge poste.

Häufig erscheinen mir Diskussionen auch sinnlos, gerade wenn ich das Gefühl habe, dass einige der Teilnehmer die Diskussionen sehr dominieren, aber eigentlich vom Thema wegführen. Das ist meine milde Formulierung für Whataboutism. Also es ist schwer, ein Thema auf einem Punkt zu halten. Das ist aber vielleicht auch ein Anspruch, den man nur noch in der alten Printpresse und als alter weißer Mann hat, weil es eben ein gemeinschaftlicher Diskursprozess ist, bei dem ich keine Herrschaftsansprüche stellen kann. Ich kann den Anschluss anderer ja weder voraussehen noch garantieren. Es geschieht, wie es geschieht.

Stimmst du der These zu, dass wir durch die Kommunikation im Netz gefühlsmäßig abstumpfen? Warum/warum nicht?

Auf die Frage gibt es verschiedene Antworten. Spontan würde ich sagen, dass bestimmte Themen zumindest in der Twitter- und Facebook-Bubble, in der ich mich befinde, deutlicher sichtbar werden. Beispielsweise wenn es um psychische Krankheiten und Befindlichkeiten geht. Also wenn Menschen ihre Depressionen zum Thema machen oder wenn Autisten diskutieren, wie sie behandelt werden wollen. Oder auch der neueste Versuch, Hass mit Liebe zu bekämpfen, ein Vortrag auf der re:publica, den ich ja ganz süß finde, weil die Leute gar nicht merken, dass Jesus das schon gesagt hat.

Bei all diesen Beispielen geht es um Emotionen, die vorher nicht unbedingt sichtbar waren. Also zumindest hat sich die Tageszeitung nicht mit dieser Art von Emotion präsentiert. Wir haben es auch mit persönlicher Betroffenheit zu tun, die artikuliert wird, und wir haben es mit vielen persönlichen Lebensgeschichten zu tun, die sich hier und dort zeigen. Obwohl auch vieles verdeckt wird. Auch die Lebenswelten anderer Personen werden über Massenmedien traditionell nicht so sehr transportiert. Bis dahin würde ich sagen, es ist eher gegenteilig. Ich sehe mehr Menschen, die sich artikulieren, es gibt kulturelle Entwicklungen wie Memes, wie animierte Gifs, wie Emojis oder auch Formate wie Snapchat, die das noch einmal verstärken.

Umgekehrt kann man sich fragen, ob es hilft, dies ins Konstruktive zu wenden, weil die öffentliche Anteilnahme durch Veränderungen des Avatar-Bilds eben die allerleichteste Übung ist. Das sagen ja auch die Clicktivismus-Vorwürfe einiger anderer Debattenteilnehmer, und vielleicht ist die veröffentlichte Anteilnahme auch ein relativ einfacher Substitutionsversuch, anstatt wirklich etwas zu verändern. Also – plakativ gesagt – vielleicht ist der eine oder andere Refugee-Sticker ja auch eher eine Beruhigung dafür, dass man den Weg zum Flüchtlingscamp eben nicht nimmt.

Ich sehe eine leichte Tendenz dafür, dass die Emotionalisierung durch die Kommunikation im Netz verstärkt wird. Die Frage ist, ob sie ins Konstruktive gewendet werden kann oder ob sie im Nichts verläuft.

Siehst du Felder, auf denen uns das Netz empathischer macht? Gibt es Strategien, welche die Empathie im Netz fördern könnten?

Es gibt natürlich Aktionen, bei denen Leute sagen »Hier bin ich, ich brauche Geld« und tatsächlich auch viel Mitgefühl erfahren und einiges an Geld gesponsert bekommen. Das sind Beispiele dafür, dass Menschen in Not auch geholfen wird.

Was die Strategien angeht: Ich schätze Menschen, die Ideale haben. Aber es wären nicht Ideale, wenn sie die Realität wären. Hier geht es eigentlich darum, dass Menschen etwas verändern wollen. Das ist ja grundsätzlich etwas, das ich nicht verurteilen möchte. Ich glaube auch, dass es solche Strategien gibt. Ich bin nur mit dem Begriff Hass in diesem Zusammenhang vorsichtig, weil Hass für mich psychologisch der reine, auf Vernichtung der fremden Psyche gerichtete, Wille ist, und manches, was unter Hass subsumiert wird, für mich nicht dazugehört. Aber wenn sich beispielsweise Bürger aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft stärker artikulieren würden, statt sich dezent zurückzuhalten, wäre dies sicherlich eine sinnvolle Strategie.

Ich glaube, dass man das Schweigen, das Weggucken, das Ignorieren brechen muss. Auch wenn es schwierig ist, auch wenn es manchmal die Dinge noch schlimmer macht. Ich habe das selbst in Netzdiskussionen erlebt, dass ich anfange, mit Leuten, die abstruse Positionen vertreten, zu diskutieren. Und ich sehe, dass die anderen ihre Positionen natürlich nicht ad hoc verändern – das wäre auch naiv, das zu erwarten – und am Ende die ganze Diskussion von ihnen dominiert wird und ich nur noch dabei bin, ihre absurden Verschwörungstheorien abzuwehren. Das ist tatsächlich die Realität. Aber ich glaube, es ist auch wichtig, dass andere sehen, dass ich hier eine Gegenposition beziehe und diesen Quatsch nicht so stehen lasse.

Also jeder Versuch, Strategien zu entwickeln, ist grundsätzlich lobenswert. Es ist nur die Frage, mit welchem Anspruch man an die Sache herangeht. Ich glaube, dass man dies durch bestimmte Netzkampagnen nicht mal eben kurz ändert. Diese Vorstellung erscheint mir etwas naiv. Das sind Jahrzehnte dauernde Prozesse, und man muss sich darüber im Klaren sein, dass man den Stein betropft, sonst hat man wieder die Frustration, und dann kommen ein Jahr später die Artikel, dass die Liebe nicht geholfen hat.

Ich glaube auch, dass man die negativen Gefühle und die negativen Äußerungen nicht unbedingt als Ganzes verdammen sollte. Für mich gehören diese zum Leben dazu. Gerade ist in der taz ein Aufsatz erschienen, in dem dafür plädiert wird, den Hass nicht vollständig zu dämonisieren. Es gebe bestimmte psychische Gründe, weshalb man eben diese Emotionen habe, zum Beispiel auch, um eine entsprechende zielgerichtete Aggression und Motivation aufzubauen. Das Gefühl als solches beruht auf Ursachen und lässt sich nicht einfach auslöschen oder unterdrücken. Es ist also eher die Frage, wie man es umwandelt in eine konstruktive Emotion oder in irgendeine Art von Lösung.

Info: Dieses Interview ist Teil einer Reihe von insgesamt 15 Interviews und wurde letzten Sommer im Rahmen eines Buchprojektes geführt.

Interview mit Simon Hegelich

SHegelich_swDu arbeitest als Professor für Political Data Science an der Hochschule für Politik der Technischen Universität München und beschäftigst dich mit Social Bots und dem Thema der künstlichen Intelligenz. Würdest du dich als Cyborg bezeichnen?

Nein. Ich denke zwar, dass die Grenzen zwischen Mensch und Technik nicht starr sind und derzeit aufgelöst werden. Ich selbst fühle mich aber noch sehr menschlich.

Wie wahrscheinlich ist es, dass die Technik eines Tages in unsere Sinne eingespeist wird?

Das werden wir mit Sicherheit schon sehr bald erleben. Die Firma MagicLeaps entwickelt zum Beispiel einen Ansatz, bei dem Computerbilder direkt auf die Netzhaut projiziert werden. Angeblich kann man dann nicht mehr zwischen virtuellen Illusionen und der Wirklichkeit unterscheiden.

Wir führen unsere Beziehungen mittlerweile digital. Wie werden wir in 30 Jahren Liebesbeziehungen führen? Wird unser Mitgefühl darunter leiden?

Mitgefühl bedeutet ja, das man mit jemand anderem fühlt. Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht auch gegenüber Maschinen Mitgefühl entwickeln können. Was den Blick in die Zukunft anbelangt: Ich denke, wir erleben derzeit so viele disruptive Umbrüche, dass niemand in der Lage ist, auch nur die nächsten fünf Jahre vernünftig abzuschätzen. In 30 Jahren werden wir aber – so hoffe ich – echte künstliche Intelligenz haben, also Maschinen mit Bewusstsein. Eigentlich wäre also die Bezeichnung »künstlicher Geist« besser, denn Bewusstsein muss nicht unbedingt mit einer überlegenen Intelligenz einhergehen beziehungsweise das Konzept der Intelligenz ist eh sehr fraglich.

Wie wahrscheinlich ist es, dass wir uns eines Tages in Roboter verlieben und heiraten?

Verlieben: Warum nicht? Wenn er einen angenehmen Charakter entwickelt. Heiraten? Eher nicht. Das würde Rechtsgleichheit von Mensch und Roboter unterstellen.

Sollte uns ein »künstlicher Geist« Angst machen? Oder dürfen wir uns darauf freuen?

Es gibt für mich keinen Grund anzunehmen, warum eine Maschine, die uns im Denken überlegen ist, grausamer sein sollte als ein Mensch. Ich glaube daher, das wird ziemlich cool. Angst sollten uns allerdings die Menschen machen, die »künstliche Intelligenz« jetzt schon für ihre ökonomischen und militärischen Zwecke nutzen wollen.

Verstärken die sozialen Medien Hass oder Mitgefühl? Oder macht das Netz Hass oder Mitgefühl nur deutlicher spürbar?

Ich denke, es gibt gegenläufige Effekte: Im Netz können sich Stimmungen hochschaukeln, sodass Hass und Mitgefühl verstärkt werden. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass die berühmten Shitstorms sehr schnell abebben. Es tritt also vermutlich auch ein Gewöhnungseffekt ein, sodass Hass und Mitgefühl auch gleichzeitig geschwächt werden.

Wie schätzt du die Macht der Algorithmen bei unserer Kommunikation ein?

Unsere Kommunikation wird immer stärker durch Algorithmen bestimmt. Was ich bei Google, Facebook und so weiter angezeigt bekomme, ist stark von Algorithmen abhängig. Dazu kommt: Diese Algorithmen werden nicht völlig offengelegt, weil man sie ansonsten manipulieren könnte. Beispiel Google: Die Reihenfolge der Suchergebnisse wird stark durch den »PageRank« bestimmt. Diesen Algorithmus muss man sich vorstellen wie einen gigantischen Webcrawler, der immer, wenn er auf eine Seite kommt, sich zufällig einen Link herauspickt und dem dann folgt. Dabei zählt er, wie oft welche Seite besucht wird. Wenn ich das weiß, kann ich zwei Seiten bauen, die gegenseitig aufeinander verlinken. Der Crawler wird dann immer von der einen auf die andere Seite geleitet, und Google würde glauben, die Seite sei sehr beliebt – wenn sie nicht ihren Algorithmus angepasst hätten, um solche Manipulationen zu verhindern. Dadurch wissen aber heute nicht mal mehr Experten, wie diese Algorithmen genau funktionieren.

Aber: Ich habe im Internet alle Freiheit, auch auf eine Seite zu gehen, die Google mir nicht vorschlägt. Damit etwas gefährlich wird, braucht es also auch immer Nutzer, die sich selbst von den Algorithmen abhängig machen.

Gibt es Momente, in denen du wegen des rauen Tons, der im Netz manchmal herrscht, ungern vernetzt bist?

Ja. Aber es gibt auch viele Momente, in denen ich ungern in einer Kneipe oder im Fußballstadion bin.

Siehst du Felder, auf denen uns das Netz empathischer macht? Gibt es Strategien, welche die Empathie im Netz fördern könnten?

Ich glaube schon, dass das Netz vom Grundsatz her eher zu Empathie als zu Hass beiträgt. Je mehr ich über andere weiß, umso mehr Gründe habe ich, mit ihnen zu fühlen. Die beste Strategie für mehr Empathie im Netz ist es, die Konflikte in der echten Welt zu lösen.

Info: Dieses Interview ist Teil einer Reihe von insgesamt 15 Interviews und wurde letzten Sommer im Rahmen eines Buchprojektes geführt.