Interview mit Nele Heise

Foto: Lotta Heise

Foto: Lotta Heise

Du bist Medienforscherin und im Netz zu Hause. Was schätzt du an der vernetzten Kommunikation?

Ehrlich gesagt: alles. Also fast alles. Ohne die Möglichkeiten digitaler Kommunikation könnte ich schlichtweg meine Arbeit nicht machen. Ich hätte aber zum Beispiel auch nicht so ein tolles Netzwerk von Kolleg*innen auf der ganzen Welt und könnte mich weniger schnell darüber informieren, an welchen Projekten und Themen sie so arbeiten. Vernetzte Kommunikation hilft mir, Veränderungen und bestimmte Entwicklungen, aber auch Probleme oder Konflikte in der digitalen Gesellschaft zu erkennen und ein Stück weit zu verstehen, unter anderem, weil sie Einblicke in mir fremde Lebenswelten ermöglicht. Das Netz bereichert meine Arbeit also immens und gibt mir außerdem die Möglichkeit, mich in Debatten einzuschalten, sie anzustoßen oder auf Themen aufmerksam zu machen. Über Plattformen wie Twitter kann ich mit Menschen außerhalb der Wissenschaft in Kontakt kommen, die mit meiner Forschung zu tun haben und mit denen ich sonst kaum Berührungspunkte hätte. Oder ich kann auf spannende Forschung und Quellen hinweisen, die sonst kaum jemand wahrnehmen würde. Dieser Austausch »zwischen den Welten« und dabei für verschiedene Menschen ansprechbar zu sein, das ist mir sehr wichtig. Da sehe ich mich nicht nur als Beobachterin, sondern auch als Vermittlerin. Und gleichzeitig macht es mir einfach eine Menge Spaß, im Netz mit neuen Tools zu experimentieren oder zu zeigen, dass ich mehr bin als die seriöse Forscherin (auch wenn das in der Wissenschaft vielleicht nicht alle gut finden). Nicht zuletzt hätte ich ohne das Netz nicht so spannende Forschungsfelder, und das wäre wirklich schade.

Warum schätze ich nur fast alles an der vernetzten Kommunikation? Das liegt daran, dass sie manchmal anstrengen und überfordern kann – im Berufsalltag wie im Privatleben. Erst recht, wenn sich beides nicht mehr so recht trennen lässt. Oder wenn man – wie ich – ganz bewusst in digitale Kulturen eintaucht, um sie »von innen« heraus zu verstehen und zu erforschen. Das ist eine der großen Herausforderungen vernetzter Kommunikation für uns alle, und bei vielen Konflikten, die sich daraus ergeben, stehen wir, glaube ich, mit der Suche nach Lösungen und neuen Umgangsweisen erst am Anfang.

Es scheint, dass wir uns daran gewöhnt haben, unsere Beziehungen digital zu führen. Machen uns digitale Beziehungen glücklicher?

Vielleicht machen uns digitale Beziehungen nicht notwendigerweise glücklicher als »analoge« Beziehungen. Aber digitale Kommunikationstools erweitern das, was Beziehungen sind, was sie ausmacht und wie wir sie heute leben können. Wenn man zum Beispiel an Fernbeziehungen denkt, dann haben Tools wie Skype oder Messenger die Qualität solcher Beziehungen sicher (in der Regel positiv) verändert. Oft sind digitale Tools eine Ergänzung für bestehende Beziehungen, was eine Bereicherung sein, aber auch für Konflikte sorgen kann. Weil manche Botschaften leichter mal missverstanden oder falsch gedeutet werden. Weil man sich gegenseitig mit einem Zuviel an Kommunikation auf den Senkel geht oder die Kommunikation zu einseitig verläuft. Und nicht zuletzt gibt es im Digitalen vielleicht mehr Möglichkeiten, einander zu beobachten und zu »überwachen«, was mitunter negative Gefühle wie Eifersucht verstärken kann. Pauschal sagen lässt sich das also nicht – den Gebrauch von digitalen Medien muss jedes Paar für sich aushandeln.

Für Menschen, denen es normalerweise schwerfällt, auf andere zuzugehen, die sich in ihrem unmittelbaren Umfeld isoliert fühlen, denen Möglichkeiten fehlen, Beziehungen aufzubauen oder anzubahnen, können digitale Kanäle ihr Leben positiv beeinflussen. Sie haben zum Beispiel nicht mehr das Gefühl, allein zu sein, oder trauen sich durch den Kontakt zu anderen auch im Analogen mehr zu. Wenn du zum Beispiel als junger Mensch irgendwo auf dem Dorf lebst und dich nicht outen kannst, dann kann der Austausch mit anderen im Netz dazu führen, dass du deinen Alltag anders erlebst und vielleicht sogar selbstbewusster mit dieser Situation umgehst.

Es kommt also – wie immer – darauf an, wie und aus welchen Gründen man digitale Kommunikation nutzt oder eben nicht. Und vielleicht sollten wir uns generell häufiger mal die Zeit nehmen, darüber nachzudenken, wann und wieso uns digitale Beziehungen glücklich oder unglücklich machen, welchen Stellenwert sie in unserem Leben haben und wann wir sie als bereichernd und wann als defizitär erleben.

Im Netz trauern wir oft lauter, wenn ein Künstler oder Politiker gestorben ist. Ist diese Art von Trauer überhaupt echt?

Ich würde da grundsätzlich zwischen Trauer und Anteilnahme unterscheiden: Trauer ist für mich sehr individuell, im Netz zeigt sie sich unglaublich facettenreich, in der Trauer um geliebte Menschen, Kolleg*innen, Haustiere bis hin zu Held*innen der Popkultur, zu denen man eine enge Verbindung fühlt (ja, dazu würde ich zum Beispiel auch Serienfiguren zählen). Das kann auch in ganz kleinem Kreis stattfinden, vielleicht in einer privaten Gruppe auf Facebook oder durch kleine Symbole wie die Veränderung eines Profilbilds. Worauf die Frage anspielt, würde ich eher als Anteilnahme verstehen: Oft kennen wir die Verstorbenen nicht persönlich, aber nehmen teil an einer Art kollektivem Ausdruck von Verlust und dem gemeinsamen Erinnern, durch das Posten von Momenten, Zitaten usw., weil wir uns ihrer Bedeutung bewusst sind oder sie tatsächlich unser Leben berührt haben. Diese Art der Anteilnahme geht im Netz vielleicht vielfältiger und global vernetzter als offline. Und dadurch wird sie eben auch sichtbarer – oder wie du sagst: »lauter«. Der Eindruck, dass diese Anteilnahme nicht ganz so echt ist, entsteht vielleicht dadurch, dass sie mittlerweile stark ritualisiert ist und wir eigentlich jedes Mal, wenn bekannte Personen sterben, schon mit bestimmten (Standard-)Reaktionen rechnen. Und vielleicht fühlen wir uns dadurch manchmal auch quasi dazu genötigt, unsere Anteilnahme nach außen darzustellen und dabei möglichst kreativ zu sein, statt still für uns innezuhalten.

Da kann ich schon verstehen, dass einige solche kollektiven Rituale als unangemessen, unpersönlich oder fake empfinden. Ich würde mir aber nie anmaßen, die »Echtheit« von Trauer und Anteilnahme anderer zu bewerten. Eine Grenze ist für mich allerdings erreicht, wenn die Anlässe instrumentalisiert werden. Wenn also zum Beispiel Firmen oder politische Akteure den Tod einer bekannten Persönlichkeit nutzen, um durch Clickbait Werbung für sich zu machen oder Aufmerksamkeit für ihre politischen Positionen und Zwecke zu erlangen. Das halte ich für problematisch und falsch – ich würde es aber auch außerhalb des Netzes unredlich finden.

Nach Anschlägen oder anderen Katastrophen werden viele von uns zum Medienkritiker und -experten. Wird sich das eines Tages einpendeln?

Zunächst einmal ist öffentlich Kritik zu üben über digitale Kanäle natürlich viel leichter geworden, und es können sich potenziell mehr Menschen äußern – egal, ob sie Laien oder Experten für ein Gebiet sind. Und in der Masse trägt das bei solchen Ereignissen zu einem gewissen reflexhaften Grundrauschen bei. Das ist häufig erregt, redundant, leider meist nicht gerade differenziert – und, wie ich finde, mittlerweile ziemlich erwart- beziehungsweise vorhersehbar. Das heißt aber natürlich nicht, dass die Kritik substanzieller oder automatisch gerechtfertigt ist (sieht man gerne mal bei selbst deklarierten »Medienexperten«). Und schon gar nicht, dass jede Form der Kritik akzeptabel wäre: Wer zum Beispiel ernsthaft von »Lügenpresse« spricht oder einzelne Medienvertreter persönlich angeht, kritisiert in der Regel nicht, hat eher wenig Ahnung und macht nur selten konstruktive Vorschläge.

Wir befinden uns jedenfalls in einer Umbruchphase, und die Bedingungen für Journalismus haben sich stark verändert. Vielen Medienmenschen fällt es, glaube ich, noch schwer anzunehmen, dass ihre Arbeit verstärkt unter Beobachtung steht und Fehler sichtbarer sind. Diese Haltung ist vielleicht nicht immer besonders förderlich, was den Umgang mit Kritik angeht. Andererseits wissen viele User kaum etwas darüber, wie Medien arbeiten, sehen ihre Meinungen nicht repräsentiert oder meinen vielleicht sogar, sie könnten es besser. Und diese Konstellation kann natürlich gerade in Situationen, in denen alles ganz schnell gehen muss, Bilder und Einordnungen verlangt werden, obwohl noch vieles im Unklaren ist, ziemlich fatal sein.

Kritik und das Aufzeigen von Grenzüberschreitungen sind wichtig, und soziale Medien können ein Weg sein, um Veränderungen einzufordern. Ich persönlich finde aber nichts langweiliger als die immer gleiche undifferenzierte Häme über Verfehlungen von »den Medien«, gerade von Menschen, die nicht dazu bereit sind, sich ernsthaft mit den dahinter liegenden Bedingungen auseinanderzusetzen. Oder auch mal konstruktive Vorschläge zu machen. Hier würde ich mir mehr fundierte Kritik und Einordnung wünschen, wie es zum Beispiel einige Watchblogs, Podcasts oder auch manche Kollegen aus der Medienethik tun. Dann braucht es vielleicht auch mehr Mut und Offenheit von Medienmachern, ihre Arbeit zu erklären, Fehler einzugestehen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Letztlich stehen wir auch immer öfter vor Situationen, für die es noch gar keine Best Practice oder Spielregeln gibt und wo die Aushandlung von Normen in der Medienlandschaft den technologischen Entwicklungen (zum Beispiel Drohnenkameras oder Livestreams) hinterherhinkt.

Manches, glaube ich, pendelt sich sogar schon langsam ein, denn wir reagieren ja mittlerweile durchaus etwas differenzierter auf solche Ereignisse. Das sieht man zum Beispiel an Debatten darüber, ob man bestimmte Bilder teilen sollte und welche Rolle auch wir User haben, wenn es um Fragen der Menschenwürde, Verletzung der Privatsphäre usw. geht. In sozialen Netzwerken tragen wir ja selbst zu Öffentlichkeiten bei, und deswegen haben auch wir, finde ich, eine gewisse (ethische) Verantwortung dafür, was wir teilen. Auch wenn Medien wegen ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und Funktion noch mal eine besondere Verantwortung haben, sollte jeder, der Medien kritisiert, vielleicht hin und wieder mal die eigene Nutzung reflektieren. Zum Beispiel, ob wir in bestimmten Situationen nicht selbst reflexhaft ungeklärte Informationen, abstruse Meldungen oder gefakte Bilder verbreiten, um irgendwie Teil des ganzen Rummels zu sein (ist mir bestimmt auch schon mal passiert). Hier hilft vielleicht, mal abzuwarten und sich ein Bild zu verschaffen (wie wir es ja eigentlich von den Medien erwarten). Am Ende des Tages steht es heute, Internet sei Dank, jedem frei, sein eigenes Medium zu starten und es besser zu machen – er muss sich dann aber gegebenenfalls an den eigenen Ansprüchen messen lassen.

Shitstorm, Mobbing, Hetze: Welche Verantwortung hat die Wissenschaft, diese Themen zu beleuchten?

Die Wissenschaft hat hier eine große Verantwortung, finde ich, weil viele Dynamiken und Probleme, die dahinterstecken, Gegenstand unserer Forschung sind. Wie wir mit dieser Verantwortung umgehen, ist nicht unumstritten. Denn dabei geht es um eine ganz grundsätzliche Frage, nämlich welche Rolle Wissenschaft in der Gesellschaft hat. Ob sie sich aktiv in öffentliche Diskurse einschalten, aufklären und einordnen muss. Und wie sie das tun kann. Gerade mein Fach, die Kommunikationswissenschaft, ist bei diesen Themen leider (noch) oft merkwürdig unkommunikativ. Das hat vor allem damit zu tun, wie Wissenschaft funktioniert: Forschung dauert oft lange und ist manchmal etwas langsam für aktuelle Fragen. Objektivität ist ein wichtiges Gut, und wer sich mit klarer Kante öffentlich äußert, wird schon mal mit Argwohn beobachtet oder macht sich in der Community angreifbar. Publizieren innerhalb der Wissenschaft hat in der Regel einen höheren Stellenwert, als in den Medien aufzutauchen oder gar ein Blog zu verfassen – wofür den meisten ohnehin die Zeit und übrigens auch die Erfahrung oder die notwendigen Skills fehlen. Viele Themen sind einfach ziemlich komplex, oder die Forschung kommt zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Daher können und wollen wir manchmal keine einfachen Antworten geben, wie es zum Beispiel von den Medien oft erwartet wird. Und vielleicht fehlt manchen auch der Mut, sich zu äußern, oder das Bewusstsein, dass unsere Arbeit zu Veränderung in der Gesellschaft beitragen kann und sollte. Das sind nur einige Gründe, warum sich nicht mehr Wissenschaftler in öffentliche Debatten einbringen und ihre Forschung mit der Gesellschaft teilen. Ich finde das extrem wichtig und habe mittlerweile auch den Eindruck, dass mehr und mehr Kollegen erkennen, dass soziale Medien usw. nicht nur Räume sind, die wir beforschen und oft ja auch selbst nutzen, sondern an deren Entwicklung – nicht zuletzt in unserem eigenen Interesse – wir mit unserem Wissen teilhaben sollten. Darin sehe ich keinen Widerspruch. Und im Bereich Mobbing zum Beispiel mischt sich Forschung über den Umweg der Medienbildung in Schulen ja durchaus ein, nur wird das vielleicht öffentlich nicht so wahrgenommen.

Verstärken die sozialen Medien Hass oder Mitgefühl? Oder macht das Netz Hass oder Mitgefühl nur deutlicher spürbar?

Soziale Medien machen zunächst einmal Dinge sichtbar(er), keine Frage. Sie – oder vielmehr das, was über soziale Medien transportiert wird, also die Inhalte, aber auch die Art der Kommunikation – können die Ursache für Hass oder Mitgefühl sein. Und zugleich können wir in sozialen Medien und mit ihrer Hilfe unsere Gefühle wie Hass oder Liebe zum Ausdruck bringen. Es ist also ein bisschen ein Henne-Ei-Ding.

Soziale Medien können ein wichtiges Tool sein, um Menschen zu mobilisieren, und Emotionalisierung kann dabei eine entscheidende Rolle spielen. Das heißt, um für bestimmte Dinge (zum Beispiel Petitionen) Aufmerksamkeit zu schaffen, werden sie so verpackt, dass sie uns emotional ansprechen. Gefühlt jedenfalls haben es dabei Dinge, die auf Liebe und Anerkennung bauen, grundsätzlich schwerer. Mal ein Beispiel: Aus dem Journalismus wissen wir, dass das Publikum sich in der Regel viel öfter mit Kritik oder Beschwerden an Medienschaffende wendet als mit positiven Äußerungen oder Zustimmung, die oft einfach eher über ein »Like« oder das »Teilen« signalisiert werden – es gibt ja keinen Grund, sich zu beschweren. Ganz ähnlich, fürchte ich, funktioniert das mit anderen Dingen im Netz: Hass, Wut und Empörung haben ja oft bestimmte (zum Teil irrationale) Ängste oder gefühlte Bedrohungen zur Ursache. Oder sie sprechen unseren Gerechtigkeitssinn an, polarisieren stark oder beziehen sich auf konkrete oder diffuse Feindbilder (»wir« vs. »die anderen«; »rechts« vs. »links« usw.) – all das sind ziemlich starke Treiber, und ich glaube, niemand ist wirklich immun dagegen. Und wenn man weiß, was die Auslöser für Hass und Empörung in bestimmten Gruppen oder Netzwerken sind und wie man diese Dinge kanalisiert, dann lässt sich dieses Potenzial online recht einfach mobilisieren, instrumentalisieren und sogar programmieren, wie man an Hate-Speech-Bots sieht. Und vielleicht nehmen wir diese Auslöser und den leider alltäglichen Hass im Netz generell lauter wahr als Gesten von Mitgefühl – im Journalismus würde man sagen: Eine gute Nachricht ist keine Nachricht.

Soziale Medien sind aber nur bedingt ein Abbild der Wirklichkeit oder davon, was alle so denken (oder fühlen). Das liegt schon allein daran, dass gar nicht jeder sie nutzt (beziehungsweise nutzen kann) oder sich äußert – es gibt ja nicht wenige, die eher beobachten, als sich aktiv einzubringen. Das heißt, Debatten im Netz zeigen bestimmte Ausschnitte und vielleicht auch häufiger extreme Positionen, die im klassischen Mediendiskurs seltener zu finden sind oder ausgefiltert werden, weil sie zum Beispiel gegen Diskursregeln oder demokratische Grundprinzipien verstoßen. In vielen Foren, Blogs usw. gibt es nicht immer ein Korrektiv, keine Gatekeeper oder Versuche, zu moderieren und vielfältige Meinungen abzubilden. Das ist auch an sich völlig okay. Ich denke, nur wer sich nur in bestimmten Gruppen bewegt oder nur mit Gleichgesinnten umgibt, für den wirken die Meinungen oder Ansichten in solchen Zirkeln wie in einer Art Echokammer mitunter verstärkend – das ist außerhalb des Netzes zunächst erst mal nicht anders (Stichwort Stammtisch). Ich glaube aber, dass das Netz Menschen weitaus mehr Möglichkeiten bietet, sich ortsunabhängig zu vernetzen, zu organisieren und sich gegenseitig in ihren Positionen und ihrer Gruppenzugehörigkeit zu bestärken. Wenn man dann noch die Empörungs- und Wutdynamiken dazunimmt, führt das schlimmstenfalls zu einer Radikalisierung. Sofern diese sich gegen bestimmte Personengruppen richtet, halte ich die Verstärkungseffekte des Netzes für extrem besorgniserregend.

Aber: Es gibt auch viele Beispiele für positive Mobilisierung und Solidarisierung, wie das Hashtag #Offenetüren in München gezeigt hat, und Momente der geteilten Freude, Anteilnahme und Empathie. Die sind vielleicht einfach seltener, aber wie ich finde umso eindrücklicher und machen Mut. Diese Stärke der vernetzten Kommunikation sollten wir uns immer wieder vor Augen halten. Wir sollten den Wutmachern weniger auf den Leim gehen, indem wir uns von ihnen provozieren und auf diese Weise einspannen lassen, um ihre Botschaften zu verbreiten. Wir sollten lieber anfangen, unsere Zeit, Energie und Kreativität auf Taktiken und Interventionen gegen den Hass zu richten, und jene, die dem Hass Raum bieten, an ihre Verantwortung erinnern.

Wie schätzt du die Macht der Algorithmen bei unserer Kommunikation ein?

Wow, das ist ein breites Feld! Die »Wirkmacht« von Algorithmen auf die Art und Weise, wie wir kommunizieren, ist durch die Digitalisierung vieler Lebensbereiche (Medizin, Wirtschaft, Medien, Politik usw.) natürlich unbestreitbar – jedes Computerprogramm und digitale Tool basiert auf Algorithmen. Algorithmen beeinflussen, wie wir online an Informationen gelangen, welche Inhalte uns empfohlen oder welche Freundschaften uns vorgeschlagen werden. Bis hin zur Art und Weise, wie wir im Netz uns und unsere Identität darstellen oder welche Inhalte wir publizieren können. Algorithmen haben also durchaus einen immensen Einfluss auf unser digitales – und letztlich auch analoges – Leben. Die allermeisten User nehmen das nicht bewusst wahr, was ja auch durchaus so gewollt ist, oder sie wissen gar nicht, dass Umgebungen wie Facebook von Prozessen im Hintergrund gefiltert werden. Das bringt einige Probleme mit sich, wenn zum Beispiel das Ranking von Suchergebnissen als neutral angesehen und nicht hinterfragt wird oder wir nur noch mit Inhalten konfrontiert werden, die unseren Präferenzen entsprechen (Stichwort Filter Bubble), ohne genau zu wissen, warum. Andererseits brauchen wir Algorithmen, um uns in der Flut von Inhalten und Informationen im Netz zurechtzufinden – sie erfüllen also auch sehr wichtige Aufgaben, ohne die wir viele Funktionen digitaler Medien gar nicht nutzen könnten.

Wichtig ist, dass wir uns darüber im Klaren sind, dass Netzanwendungen keine neutralen Oberflächen sind – ihre Funktionen und die dahinterliegenden Algorithmen werden von Menschen programmiert, beeinflusst und verändert. Das können zum Beispiel einzelne Designer, Unternehmen oder auch Staaten sein, die persönliche Wertvorstellungen, kommerzielle oder politische Ziele in die Anwendungen »einschreiben«. Gerade bei so wichtigen Anwendungen wie Suchmaschinen haben diese Akteure also große Macht, was unter anderem deshalb so problematisch ist, weil die Prozesse kaum transparent sind, oft auf Vorurteilen der Gestalter basieren und wir als User die Entscheidungen von Algorithmen kaum verstehen oder hinterfragen, geschweige denn ihr Design beeinflussen können. Das kann zu einer unfairen Diskriminierung und Benachteiligung führen, weil man zum Beispiel ein bestimmtes errechnetes Profil (nicht) erfüllt, oder sogar zur Manipulation öffentlicher Meinung, wie man etwa an Social Bots sehen kann.

Das alles sind Dinge, die erst allmählich in den Fokus öffentlicher Debatten rücken, und neben Hackern, Journalisten, Politikern oder Rechtsexperten haben natürlich auch wir Wissenschaftler eine wichtige Aufgabe, auf Probleme hinzuweisen und Lösungsvorschläge zu machen. Wie man sieht, die »Macht« von Algorithmen ist komplex, vielfältig und schwer greifbar, sie hat aber immer mit Menschen zu tun. Nicht zuletzt spiegeln viele Algorithmen auch unser eigenes Nutzungshandeln wider, und daher sind auch wir als User von Plattformen und als Teil der Zivilgesellschaft gefragt, Kontrolle, Transparenz und Fairness zu fordern, zu hinterfragen und über Alternativen nachzudenken.

Gibt es Momente, in denen du wegen des rauen Tons, der im Netz manchmal herrscht, ungern vernetzt bist?

Erst einmal muss ich sagen, dass sich die »Sphären«, in denen ich im Netz unterwegs bin, voneinander unterscheiden. Und zwar darin, wie öffentlich sie sind und mit wem ich es da zu tun habe. Ich versuche, das bewusst zu steuern, indem ich zum Beispiel mein Instagram-Profil auf privat geschaltet habe, um mehr Kontrolle darüber zu haben, wer diese Bilder sehen kann. In den Netzwerken, die ich mir so geschaffen habe, geht es glücklicherweise in aller Regel sehr fröhlich, »gesittet« (also: respektvoll im Umgang miteinander) und fair zu. Da wird es dann auch akzeptiert, wenn ich mich aus Diskussionen ausklinke oder auch mal einen bestimmten Ton einfordere.

Den »rauen Ton« nehme ich viel öfter wahr, wenn ich Unbekannte und deren Kommunikation beobachte, beispielweise was so unter bestimmten Hashtags, in Kommentarbereichen oder auf den Facebook-Seiten von Medien abgeht. Dass andere Menschen zu Themen andere Meinungen haben, geschenkt. Was mich daran aber oft geradezu entsetzt, ist, dass scheinbar viele der Ansicht sind, es wäre im Netz okay, anderen mit Aggressivität, Konfrontation oder Herabwürdigung zu begegnen, bis dahin, andere regelrecht zu »entmenschlichen«. Ich tue mir das mittlerweile nicht mehr oft an, denn diese Unart des Umgangs kann ich kaum aushalten – nicht nur wegen des Tons, sondern auch wegen der Vorhersehbarkeit, Redundanz, Irrationalität und der vielen Zeit und Energie, die damit verschwendet wird. Vielleicht lernt man mit der Zeit, eine gewisse Distanz dazu aufzubauen oder diesen »Gefilden« tatsächlich einfach aus dem Weg zu gehen, um nicht an der Welt zu verzweifeln und um des eigenen geistigen und emotionalen Wohlbefindens willen. Aber manchmal wäre ich schon gerne etwas mutiger, und sei es nur, um anderen beizustehen und die Verachtung nicht den Diskurs bestimmen zu lassen.

Grundsätzlich glaube ich, dass jeder sicher seine eigenen Grenzen oder Erwartungen hat, wie Diskussionen abzulaufen haben. Aber der »raue« Ton vieler Online-Debatten kann toxisch wirken, und das macht mir Sorge. In einem Forschungsprojekt haben wir zum Beispiel herausgefunden, dass viele Menschen sich vor allem am Ton und Niveau von Debatten stören. Gerade YouTube schnitt hier schlechter ab als andere Kommunikationsplattformen; dies verwundert nicht, da es für seine teils drastische, enthemmte Kommentarkultur bereits berüchtigt ist. Ein sinkendes Niveau und ein verletzender Ton können dazu führen, dass sich Menschen erst gar nicht an Debatten beteiligen möchten oder sich nicht trauen, ihre Stimme einzubringen. Das kenne ich auch von mir – an Diskussionen zu bestimmten Themen nehme ich gar nicht erst teil beziehungsweise einige Themen spreche ich nicht an.

Wenn Diskurse also von Personen dominiert werden, die sich in Debatten mit bestimmten Mitteln durchsetzen können und es dadurch schaffen, andere auszugrenzen, finde ich das schwierig. Besonders wenn es als Strategie genutzt wird, um Menschen abzuwerten, ihnen das Rederecht abzusprechen oder durch Missbrauch von Diskursmacht stumm zu schalten. Da setzen sich aber leider im Grunde viele Mechanismen fort, die wir aus der »Offlinewelt« kennen, und wo das Netz (bislang) nur bedingt dazu beiträgt, dass ein Diskurs stattfindet, in dem alle Stimmen zu Wort kommen (können). Dazu kommt, dass die Grenze zwischen »rauem Ton«, Hate Speech und Missbrauch teilweise fließend ist und oft zu wenig unternommen wird, diese Grenzen klar aufzuzeigen – nicht nur ethische, sondern auch rechtliche. Hier sind aber alle in der Verantwortung, insbesondere diejenigen, die Diskussionsräume, zum Beispiel Kommentarbereiche, anbieten, eine nichttoxische Kommunikationskultur zu fördern und einzufordern. Das kann zermürbend, mühselig und aufwändig sein oder auch mal schmerzlich, wenn man zum Beispiel eigene Kontakte oder Freunde auf Grenzüberschreitungen hinweisen muss. Aber nur so geht’s.

Stimmst du der These zu, dass wir durch die Kommunikation im Netz gefühlsmäßig abstumpfen?

Nein, beziehungsweise es kommt darauf an :-). Ich glaube schon, dass die Kommunikation im Netz sich an einigen Punkten davon unterscheidet, wie wir im Alltag »offline« miteinander umgehen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass digitale Kommunikation nicht automatisch alle Signale transportiert, die wir Menschen als Informationen im »Analogen« zur Verfügung haben (Gerüche, Gesichtsausdrücke usw.), und wir meistens textbasiert miteinander kommunizieren. Damit fehlen uns einige Hinweise, die wichtig sind, um die Gefühle anderer zu »lesen«, aber auch, um unsere eigenen Gefühle für andere wahrnehmbar zu machen. Andererseits glaube ich, dass es für manche Menschen gar nicht so leicht ist, Gefühle zu zeigen, und für diese können digitale Mittel vielleicht ein Weg sein, sich auszudrücken und zu öffnen. Für sie kann die Kommunikation im Netz unter Umständen also eine Bereicherung ihrer Gefühlswelt sein.

Was ich nicht glaube, ist, dass uns Kommunikation im Netz gefühlsmäßig zum Beispiel weniger verletzen oder berühren kann. Im Gegenteil: Phänomene wie Cyberbullying oder -mobbing zeigen ja ziemlich deutlich, dass Kommunikation über digitale Wege starke Auswirkungen auf unsere Gefühlswelt haben kann. Die Konfrontation mit drastischen Bildern, die uns schockieren, emotional aufwühlen, mit Traurigkeit erfüllen. Oder Katzenvideos, die uns zum Lachen bringen – das sind ja ganz reale Gefühle. Die Ansicht, dass es einen klaren Unterschied zwischen analog/digital gibt, war leider lange verbreitet, und erst allmählich fangen wir an, uns mit den emotionalen Auswirkungen von Netzkommunikation auseinanderzusetzen und sie besser zu verstehen. Das sehr umstrittene »Facebook-Experiment«, in dem ansatzweise gezeigt wurde, dass die Gefühle, die über die Inhalte transportiert werden, einen Einfluss auf uns haben und »ansteckend« sein können, ist nur ein Beispiel. Oder die Diskussion um die Menschen, deren Job es ist, krasse Inhalte auszufiltern, und die mit den gesundheitlichen und emotionalen Folgen oft alleine gelassen werden.

Was mir dazu noch einfällt: Wir nutzen heute mehr Medien als je zuvor, und gerade über das Netz sind wir mit immer mehr Informationen, Bildern, Videos usw. konfrontiert, die uns oft auch ziemlich ungefiltert erreichen. Wenn du zum Beispiel an Livestreams von gewalttätigen Ereignissen denkst, Naturkatastrophen oder Bilder aus Kriegsgebieten, die klassische Medien niemals in dieser Form publizieren würden – nicht immer können wir uns davor schützen, weil sie irgendwie in unsere Timelines gespült oder nicht ohnehin gelöscht oder gesperrt werden. Und dann gibt es ja immer noch diesen gewissen Voyeurismus oder die Neugierde, die dazu führt, dass wir uns diesen Bildern aussetzen. Da hat aber sicher jeder ganz eigene Schmerz- und Belastungsgrenzen, und vielleicht verschieben sich diese Grenzen, wenn solche Inhalte jederzeit, massenhaft verfügbar sind und scheinbar »Normalität« werden.

Ich glaube aber dennoch nicht, dass dies für uns »normale« User, die nicht permanent damit konfrontiert sind, allgemein ein Abstumpfen bedeutet. Sondern die Frage ist eher, welche Strategien wir entwickeln, um mit dieser Überforderung umzugehen, bestimmte Eindrücke zu verarbeiten und gegebenenfalls nicht zu nah an uns ranzulassen. Und dazu gehört auch, beim Teilen von Inhalten die Grenzen anderer anzuerkennen (zum Beispiel mit »trigger warnings«), sich auch mal Zeit zu nehmen, bevor man etwas anklickt oder teilt, und sich Inhalten nicht weiter auszusetzen, wenn es zu belastend wird.

Siehst du Felder, auf denen uns das Netz empathischer macht? Gibt es Strategien, welche die Empathie im Netz fördern könnten?

Das Netz bietet eigentlich so viel Raum und beispielsweise erzählerische Möglichkeiten, um Empathie in uns hervorzurufen. Wenn man an Videos, Texte oder Geschichten denkt, die uns die Lebensrealität etwa von benachteiligten Personen begreifbar machen, die sonst kein Sprachrohr haben oder kaum sichtbar sind, oder die uns Ungerechtigkeiten im Alltag zeigen. Wie das funktioniert, sieht man ja manchmal, wenn emotionale Inhalte oder berührende Geschichten viral gehen, denn oft sind das Dinge, in denen wir uns wiedererkennen können.

Ein großes Problem ist sicher, dass digitale Medien und vor allem Social-Media-Plattformen wie Twitter, Facebook oder YouTube so unglaublich viele, teils sehr verschiedene Menschen in Kontakt bringen. Wenn man es mit Millionen, teilweise anonymen Usern zu tun hat, stoßen wir mit der Forderung nach einem ethischen, empathischen Umgang miteinander an eine Grenze. Das heißt auf gar keinen Fall, dass Anonymität per se schlecht ist. Aber es fehlen uns einfach im Netz oftmals Hinweise darauf, wer der andere ist, was er fühlt, wie es ihm gerade geht usw., die wir im Alltag an unserem Gegenüber beobachten können. Ich denke, diese Einschränkungen digitaler Kommunikation führen nicht nur manchmal zu Missverständnissen, sondern können auch zu Enthemmung führen, weil andere User nicht mehr als Menschen, sondern nur als Text auf einem Bildschirm wahrgenommen werden. Und ich glaube, dass uns dadurch auch die Auswirkungen, die unser Handeln auf andere hat, oft verborgen bleiben.

Das heißt, alle Mittel, die uns vergegenwärtigen, dass wir es im Netz miteinander als Menschen zu tun haben, können dabei helfen, Empathie zu fördern. Manchmal sind das Hinweise auf unredliches, negatives Verhalten, manchmal sind es Mittel, die positives Verhalten unterstützen (blödes Beispiel: Herzchen, aber auch Katzenbilder). Auch so etwas wie Gifs oder Emojis können uns dabei helfen, unsere eigenen Gefühle in Räumen zum Ausdruck zu bringen, in denen wir uns ja zunächst erst einmal nur »virtuell« begegnen, und die Gefühle anderer »lesen« beziehungsweise kennenzulernen. Solche Ausdrucksformen sind extrem spannend, weil sie uns auch zeigen können, was uns als Menschen, egal, welcher Herkunft (Sprache, Kultur, Ethnie), verbindet. Sie müssen aber auch gelernt werden, gewissermaßen als Kulturtechniken und »Sprach«-Codes des Netzes. Zur Steigerung von Empathie gehört für mich aber vor allem auch eine Diskussion darüber, wie wir miteinander umgehen wollen, welches Verhalten akzeptabel ist und wo Grenzen überschritten werden. Das kann letztlich nicht nur eine technische oder rechtliche Frage sein, und all jene, die öffentliche Räume schaffen, sind hier in der Pflicht und tragen genauso eine Verantwortung wie wir als User. Ich frage mich aber selbst, wie es gelingen kann, dass wir Tools und Spielregeln gestalten, in denen grundlegende Rechte und Normen miteinander in Einklang kommen und auf die man sich einigen und die man als bindend annehmen kann. Die Möglichkeiten der vernetzten Kommunikation sind ja eigentlich noch recht jung und sorgen für einen so gewaltigen Umbruch, dass uns die großen damit verbundenen Probleme erst allmählich bewusst werden und wir als Gesellschaft erst am Anfang der Debatte stehen.

Nicht zuletzt könnte ich als Ethikerin den uralten Spruch »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu« bemühen. Aber auch dafür muss letztlich die Bereitschaft und Fähigkeit zu Empathie bei den Usern da sein. Menschen, die bewusst verletzten, Dialog (zer-)stören oder einfach ihren Hass auskippen möchten beziehungsweise das Netz als Ort ansehen, an dem sie ungestraft ihren Frust loswerden können, scheint es ja leider viele zu geben. Vielleicht fällt uns das im Alltag nur nicht so auf, oder wir können es leichter ausblenden. Ob es fruchtet, diesen Leuten die Konsequenzen ihres Handelns aufzuzeigen und sie zu sanktionieren, daran habe ich, ehrlich gesagt, Zweifel.

Info: Dieses Interview ist Teil einer Reihe von insgesamt 15 Interviews und wurde letzten Sommer im Rahmen eines Buchprojektes geführt.