Interview mit Mary Scherpe

Foto: Rebecca Crawford

Du lebst und arbeitest als Bloggerin in Berlin und wurdest jahrelang gestalkt. Was versteht man unter Stalking im Netz?

Stalking im Netz unterscheidet sich bis auf die Wahl der Kanäle wenig vom sonstigen Stalking: Täter nutzen das Netz für ihre Attacken. Das Ziel, das Opfer zu drangsalieren, in Angst zu versetzen, zu beleidigen und zu verfolgen, ist das gleiche. Das Netz macht es freilich leichter, und es bietet mehr Möglichkeiten, anonym zu bleiben.

Du hast zu diesem Thema sogar eine Petition gestartet. Was wolltest du damit erreichen?

Die Petition unterstützte eine Gesetzesänderung, die seit Jahren nicht nur im Koalitionsvertrag stand, sondern auch von Opferverbänden gefordert wurde. Kern ist, die Betroffenen zu entlasten und die Verantwortung dahin zu verlagern, wo sie hingehört, zu den Tätern. Bisher musste man als Betroffene*r stichhaltig nachweisen, dass das Stalking die eigene »Lebensgestaltung schwerwiegend beeinflusst«, darunter fielen Wohnungswechsel, Jobverlust und psychische Beeinträchtigung. In Zukunft wird es ausreichen, wenn die Taten geeignet sind, solche Belastungen auszulösen.

Oft wird gesagt, dass die User an Stalking oder (sexuellen) Übergriffen selbst schuld seien. Was antwortest du diesen Menschen?

Jeder kann von Stalking betroffen sein, die Auslöser sind derart vielfältig, und die Schuldfrage führt nirgendwohin. Es ist nur einfacher, die Betroffenen zur Verantwortung zu ziehen, weil sie in der Regel greifbarer sind. Die meisten Menschen wollen schnell zu einer Lösung kommen, wenn sie von einem Problem hören, die gibt es aber im Fall von Stalking selten. Das frustriert viele, und dann greifen sie lieber Betroffene an.

Wie schützt du dich heute vor Hass im Netz?

Gar nicht. Dass man sich wirklich schützen kann, halte ich für eine Illusion: Abgesehen davon, dass das verlangen würde, sich selbst stumm und unsichtbar zu machen, wird ein gewillter Täter einen überall finden. Menschen zu sagen, man könne sich ernsthaft schützen, spielt in die Hände derer, die Opfern gern die Schuld geben. Man hätte sich schließlich schützen können, sollen, müssen.

Was können Netzbewohner*innen tun, um für Mitgefühl zu sorgen, wenn der Rechtsstaat versagt?

Betroffenen zuhören, sie ernst nehmen, und ihnen Glauben schenken – und auf der anderen Seite Täter*innen konfrontieren beziehungsweise aus der Gemeinschaft ausschließen. Es gibt so viele Täter*innen, deren Verbrechen bekannt sind, die aber weder juristisch noch gesellschaftlich zur Rechenschaft gezogen werden, die weiter publizieren, arbeiten und netzwerken und kaum je Konsequenzen ihrer Taten spüren.

Verstärken die sozialen Medien Hass oder Mitgefühl? Oder macht das Netz Hass oder Mitgefühl nur deutlicher spürbar?

Beides, das Netz hat dem Hass zig neue Möglichkeiten zur Vernetzung und Vervielfältigung gegeben, aber die gleichen Mittel stehen der Gegenseite zur Verfügung. Ich habe in einem Blog alle Attacken des Stalkers veröffentlicht – dass dieser so positiv aufgenommen und verbreitet wurde, hat dazu geführt, dass ich über meine Erfahrungen ein Buch schrieb und eine mittlerweile erfolgreiche Petition gestartet habe. Ohne das Netz und seine Möglichkeiten wäre das nicht passiert.

Wie schätzt du die Macht der Algorithmen bei unserer Kommunikation ein?

Es fällt mir zunehmend schwerer, positive Seiten an Suchalgorithmen zu sehen, ich finde sie in der Regel bevormundend und limitierend und hätte lieber mehr eigene Kontrolle darüber, was ich in meinen Social-Media-Feeds sehe. Ich kann die ökonomische Motivation verstehen, aber aus einer intellektuellen Diskursperspektive führen sie zu einem beengten Weltbild, das unsere bestehenden Meinungen lediglich bestätigt, weil sie nur danach trachten, uns zu zeigen, was wir ohnehin schon liken.

Gibt es Momente, in denen du wegen des rauen Tons, der im Netz manchmal herrscht, ungern vernetzt bist?

Mir gehen Menschen, die sich keine zwei Sekunden Zeit nehmen, um Kritik konstruktiv zu formulieren, total auf den Nerv. Agitatoren und Provokateure kann ich nicht brauchen, sie wollen nicht Dialog, sondern motivieren weitere pseudokritische Monologe.

Siehst du Felder, auf denen uns das Netz empathischer macht? Gibt es Strategien, welche die Empathie im Netz fördern könnten?

Ausgesprochener Support, mehr positive Worte als nur ein Like und der Mut, auch mal uneingeschränkt zu loben, machen die Welt besser, zeigen sie doch den Betroffenen, dass sie nicht allein sind, und den stillen Mitleser*innen, dass es auch andere Stimmen gibt. Im Prinzip das viel beschworene Konzept der Gegenrede, was Konzerne zwar nicht einfordern können, um sich die Bürde der Moderation zu erleichtern, was ich aber von meinen Mitmenschen im Alltag verlange.

Info: Dieses Interview ist Teil einer Reihe von insgesamt 15 Interviews und wurde letzten Sommer im Rahmen eines Buchprojektes geführt.