Interview mit Victoria Schwartz

Schwartz sw
Du hast auf deinem Blog darüber berichtet, auf ein Fake-Profil hereingefallen zu sein. Was versteht man unter einem Realfake?

Ein Realfake ist ein männlicher oder weiblicher Fake, der so gut und aufwendig gemacht ist, dass er absolut real erscheint. Realfakes arbeiten sehr planvoll und organisiert. Sie verfügen über komplexe, bis ins kleinste Detail stimmige Lebensgeschichten und können jedes ihnen angeblich widerfahrene Erlebnis mithilfe von gefälschten »Beweisen« mühelos belegen. In der Regel warten sie mit einem regelrechten Netzwerk falscher Familienmitglieder und Freunde auf und sind mit diversen Fake-Accounts (unter Verwendung unzähliger gestohlener Fotos) auf unterschiedlichsten Internetplattformen zu finden.

Im Gegensatz zu Scammern geht es Realfakes nie um Geld. Häufig beschenken sie ihre Opfer sogar. Sie wollen Gefühle wecken, echte Emotionen hervorrufen und genießen die Aufmerksamkeit, die ihnen entgegengebracht wird. Je nach Psychostruktur des Menschen, der dahintersteckt, spielt auch der Wunsch nach Macht und Kontrolle eine Rolle, und fast alle beherrschen die psychologische Manipulation erschreckend gut. So schaffen sie es, entgegen jeder Logik und oft über einen langen Zeitraum, die Zweifel ihrer Opfer immer wieder zu zerstreuen.

Wie können wir uns im Netz vor Realfakes schützen, ohne gleich in Kulturpessimismus zu verfallen?

Realfakes beteuern zu jedem Zeitpunkt, eine Beziehung mit ihrem Gegenüber im Real Life anzustreben. Da das natürlich nicht möglich ist, werden geplante Treffen immer wieder abgesagt und verschoben. Auch Videochats können logischerweise nicht stattfinden. Die Ausreden dafür sind gut und vielfältig – und da die Opfer meist recht schnell in eine Art emotionale Abhängigkeit rutschen, lassen sie sich viel zu leicht hinhalten. Dabei wäre es ganz einfach: Nichts spricht dagegen, mit Fremden im Netz zu kommunizieren. Im Gegenteil! Das Internet ist eine großartige Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und sich mit Menschen aus der ganzen Welt zu vernetzen. Sobald aber Gefühle ins Spiel kommen, muss man sich so schnell wie möglich treffen. Nicht nur, um zu überprüfen, ob der andere echt ist. Auch weil man erst dann erkennen kann, ob die Chemie wirklich stimmt. Schöne Worte sind das eine, aber wie der andere riecht und sich bewegt, ist natürlich genauso wichtig. Sollte ein Treffen aus realistischen Gründen nicht möglich sein (zum Beispiel weil sich der andere im Ausland befindet), muss auf einem Videochat bestanden werden. Ist das Gegenüber auch dazu nicht bereit, sollten alle inneren Alarmsirenen schrillen!

Ich kenne Menschen, die routinemäßig jeden Fremden überprüfen, mit dem sie im Netz zu tun haben. Ich persönlich finde das fragwürdig und zeitraubend. Hat man allerdings mit einer Person intensiveren Kontakt, und es regen sich Zweifel an ihrer Echtheit, kann eine Rückwärtsbildersuche sinnvoll sein. Dabei wird überprüft, ob die von ihr verwendeten Fotos sich schon an anderer Stelle im Internet befinden, zum Beispiel in einem fremden Social Media Account. Bleibt die Suche ergebnislos, sollte man sich nicht in Sicherheit wähnen, denn Gründe dafür gibt es viele. Von Instagram gestohlene Fotos können zum Beispiel grundsätzlich nicht gefunden werden.

Versuchen wir nicht auch, uns in heiklen Situationen im besten Licht darzustellen?

Solange Fakes nicht mit dem Ziel erschaffen werden, zu trollen oder anderen zu schaden, halte ich es für durchaus legitim, die eigene Anonymität dadurch zu wahren, dass man zum Beispiel einen falschen Namen verwendet. Die Fotos einer anderen Person als seine eigenen auszugeben ist allerdings ein absolutes No-Go.

Wie authentisch jeder Einzelne sich und sein Leben im Netz darstellen möchte, bleibt ihm überlassen. Ich denke, dass es ein sehr menschlicher Wesenszug ist, die Realität ein wenig »beschönigen« zu wollen – ganz besonders, weil das in Social Networks so einfach geht und darum die Verlockung entsprechend groß ist. Es ist allerdings fraglich, ob man sich mit solchen Schummeleien langfristig selbst einen Gefallen tut.

Verstärken die sozialen Medien Hass oder Mitgefühl? Oder macht das Netz Hass oder Mitgefühl nur deutlicher spürbar?

Soziale Medien bringen in der Regel nur ans Tageslicht, was sowieso schon in den Menschen schlummert. Im Netz prallen Personen aufeinander, die sich vermutlich unter normalen Umständen im Real Life nie begegnet wären: Soziale Herkunft, intellektuelle Unterschiede sowie differente politische Einstellungen bieten jede Menge Sprengstoff. Durch die räumliche Distanz, noch verstärkt bei Usern von Fake- oder anonymen Accounts, sinkt die Hemmschwelle rapide, sodass einige Menschen nicht einmal mehr rudimentärste Regeln einer angemessenen Kommunikation befolgen.

Wie schätzt du die Macht der Algorithmen bei unserer Kommunikation ein?

Wie diverse Studien zeigen, sind Algorithmen dazu in der Lage, Meinungen und sogar Emotionen von Usern maßgeblich zu manipulieren. Sie sind also nicht nur unsere Kommunikation betreffend ein absolut unterschätztes Problem. Zeigt man einem Menschen ausschließlich Inhalte an, die mit seinen bisherigen Ansichten konform gehen, isoliert man ihn in einer Filter Bubble. Diese tendiert dazu, Informationen, die seiner bisherigen Perspektive widersprechen, auszublenden. Permanent wird der Nutzer nur in seiner eigenen Sichtweise bestärkt. Statt ausgewogene, objektive Informationen zu liefern, schüren Plattformen damit plattes Schwarz-Weiß-Denken, was sich wiederum deutlich in Internetdiskussionen widerspiegelt.

Gibt es Momente, in denen du wegen des rauen Tons, der im Netz manchmal herrscht, ungern vernetzt bist?

Jeder sollte im Internet für sich selbst die Verantwortung übernehmen und beobachten, was ihm guttut oder ihn emotional schwächt. Ist man in einer Filter Bubble gefangen, in der fast ausschließlich pessimistische Inhalte angezeigt werden, und ist man vernetzt mit Usern, die nicht produktiv, sondern aggressiv kommunizieren, tut man eventuell gut daran, einen Cut zu machen und seine Bubble zu verlassen, einen »Blick über den Tellerrand« zu wagen.

Ich persönlich kommuniziere ausschließlich mit Menschen, die in der Lage sind, kontroverse Meinungen respektvoll zu diskutieren.

Siehst du Felder, auf denen uns das Netz empathischer macht? Gibt es Strategien, welche die Empathie im Netz fördern könnten?

Ich sehe es als riesige Chance, dass in sozialen Netzwerken Menschen aus aller Welt dichter zusammenrücken und in Echtzeit miteinander kommunizieren können. Dadurch, dass wir uns global mit anderen Usern vernetzen, deren Ängste, Freuden, Sorgen, Sichtweisen und Lebenseinstellungen kennenlernen, kann ein sehr intensiver, erfüllender Austausch entstehen, aus dem als Konsequenz ein tieferes Verständnis füreinander erwächst.

Info: Dieses Interview ist Teil einer Reihe von insgesamt 15 Interviews und wurde letzten Sommer im Rahmen eines Buchprojektes geführt.