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Interview mit Christoph Kappes

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Du bist Jurist und hast den digitalen Wandel als Berater mitgeprägt. Hast du Verständnis dafür, dass Medienhäuser ihre Kommentarfunktion sperren lassen?

Ja, weil es Arbeit ist und es belastet, sich beschimpfen zu lassen. Nein, weil Kritik zur demokratischen Öffentlichkeit gehört und, was viele Medienhäuser machen, reine Willkür ist. Sie fallen sogar hinter Google und Facebook zurück, was Transparenz angeht.

Manche Menschen üben Selbstjustiz im Netz und machen die sie stalkende Person öffentlich. Was spricht dafür, was spricht dagegen?

Das muss nicht auf der grünen Wiese neu erfunden werden. Hier zeigt uns glücklicherweise das Recht, was okay ist. Also okay ist es, wenn man Tatsachen behauptet, die man auch belegen kann. In diesem Rahmen glaube ich, dass es immer in Ordnung ist, wenn man Dinge publiziert, solange sie nicht verletzend sind. Da muss man sicherlich aufpassen. Deswegen habe ich grundsätzlich keine Bedenken, wenn Menschen andere beschuldigen, bestimmte Taten begangen zu haben. Ich glaube auch, dass es ein natürliches Verhalten ist, das man nicht effektiv verbieten kann. Man muss sich dann aber dessen gewahr werden, dass die Unwahrheit Konsequenzen hat.

Fotos und Wohnort ins Netz zu stellen ist aus meiner Sicht grenzwertig. Und ich glaube, das wäre jenseits der Okay-Grenze. Es gibt auch Fälle in der Politik, dass zum Beispiel Vertreter der Antifa in Hamburg AfD-Politiker mit ihren Daten öffentlich machen, oder das, was in der IT-Szene doxen genannt wird: das Veröffentlichen der Dokumente von Personen. Das geht aus meiner Sicht einen Schritt zu weit, weil es die Person nicht in ihrer Rolle lässt, die sie in dieser Funktion hat. Ich glaube, dass man in dieser Hinsicht mit gewisser Vorsicht agieren muss.

Das bedeutet, Selbstjustiz hat Grenzen. Man darf auch keine Mails oder Briefe veröffentlichen?

Ob man Briefe veröffentlichen darf, da bin ich mir nicht so sicher. Ich könnte mir vorstellen, dass auch das einer Art Briefgeheimnis unterliegt [schmunzelt], weil beide Seiten davon ausgehen können, dass es nicht ohne Weiteres veröffentlicht wird, wenn es sich nicht um öffentliche Personen handelt. Die Rechtslage ist mir jetzt ad hoc gar nicht klar. Aber sozial und ethisch ist das schon im Grenzbereich, eine Information zu veröffentlichen, bei der die andere Seite davon ausgehen kann, dass diese nicht veröffentlicht wird. Deswegen ist das Mitschneiden von Telefonaten strafbar, und deswegen gibt es ein Briefgeheimnis. Es gibt schon auch eine Kultur, dass bestimmte Kommunikationsmittel eben als Kommunikationsmittel geschützt sind.

Es gibt immer auch das Risiko, dass man in seinem eigenen Urteil – auch wenn die Wahrscheinlichkeit noch so gering ist – schiefliegt. Gerade wenn es im digitalen Raum passiert, in dem Leute mit Pseudonymen oder anonym operieren. Und wer dann andere motiviert, sich mit dem Opfer zu solidarisieren, indem man den potenziellen Täter angreift, der muss sich das auch zurechnen lassen.

Wir haben gerade so einen Fall, wenn es um Jakob Appelbaum geht. Auch bei diesem Fall sind die Meinungen im Netz sehr gespalten: Ob er Menschen schikaniert, ob er sich Frauen gegenüber übergriffig verhalten hat oder womöglich versucht hat, sie zu vergewaltigen, oder sie sogar vergewaltigt hat. Da gibt es unterschiedliche Meinungen. Die Konstellation ist natürlich schwierig, weil diese Person dann auch Schaden für den Fall ihrer Unschuld nimmt, wovor der Rechtsstaat sie auch nicht mehr schützen kann. Das kann auch das Gericht nicht mehr wirklich heilen, es bleibt immer etwas kleben.

Manche Menschen werden im Netz bei Medienkatastrophen zu Kritikern. Wie lange brauchen wir noch, bis wir im Netz nicht drauflosspekulieren oder andere belehren?

Auch mir hat es lange Zeit nicht gefallen, dass der Kritikpegel so hoch ist. Ich habe das als negativ und abstoßend empfunden. Aber heute habe ich mich mit einer etwas anderen Sicht angefreundet. Kritik kann sehr positiv sein und in Gänze auch eine Art Klärungsmechanismus darstellen. Und dass man schlecht über Sinn und Unsinn von Kritik diskutieren kann, wenn ein Medium in die Welt gekommen ist, das eben genau dies im Überschuss ermöglicht.

Deshalb weiß ich nicht, ob man die Frage überhaupt so herum stellen kann, dass man vom Übermaß der Kritik spricht. Ich glaube eher, dass sich mit dem Internet die Möglichkeit ergeben hat, dass jeder alles kritisieren kann. Dass die Dinge im Zweifel transparenter werden, als sie manche haben wollen. Also nur im Zweifel, nicht immer. Und dass Kritik ein Prozess ist, in dem man auch Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge steuert. Also, wo Menschen sagen: »Musste dieser Shitstorm sein, das ist doch jetzt irrelevant, und warum müssen sich noch mal 100 Leute dazu äußern, dass dieses oder jenes passiert ist?«, glaube ich, dass dieser Prozess auf einer sozialen, höheren Perspektive sinnvoll ist.

Nehmen wir ein Beispiel, bei dem ich mich auch kurz aufgeregt habe. In einem Text der Süddeutschen Zeitung machte ein Autor eine mehr als unglückliche Formulierung über kleine Menschen. Das war der Hashtag #KeinZwerg. Wo ich mich auch frage: ›Muss es jetzt sein, dass man sich den ganzen Tag auf Twitter damit beschäftigt, dass diese eine Sache so unglücklich gelaufen ist?‹ Es handelt sich aber um einen sozialen Prozess, dass Betroffene sich artikulieren und die Dinge sagen, die ihnen wichtig sind, und man eine neue gesellschaftliche Vereinbarung darüber trifft oder treffen kann, ob man kleine Menschen noch als Zwerge bezeichnen darf, wie das meine Großmutter immer sehr wohlwollend gemeint hat. Oder ob man das heutzutage eben nicht mehr tut. Also das ist auch ein Teil eines notwendigen Prozesses, dass man dann eben nicht mehr Neger oder Zwerg sagt. Der Prozess kann auch nur stattfinden, wenn er über diesen Mikro-Shitstorm zum Ausdruck gekommen ist.

Das heißt, wir brauchen manchmal einen Shitstorm im Netz?

Ja, natürlich. Ich glaube, der Anlass kann häufig ganz banal sein. Es gibt diesen berühmten Brigitte-Shitstorm, bei dem sich eine Frau darüber mokiert hat, dass 40-jährige Männer, die mit dem Longboard über Bürgersteige fahren, Frauen mit ihren Kinderwagen behindern. Das ist natürlich eigentlich nicht wirklich der Rede wert, weil es sich um einen Einzelfall gehandelt hat. An dieser Stelle kann man jetzt beliebige Standpunkte einnehmen: Man kann der Longboard fahrende Mann sein oder auch die entrüstete Mutter, die den Kinderwagen schiebt. Darum geht es aber nicht, sondern meistens geht es um die Konflikte dahinter. Es geht immer darum, neue soziale Regeln zu finden. Ist es richtig, dass man sich so verhält? Oder ist es nicht richtig? Und ich betrachte das eben so abstrakt, dass ich sage: Es gibt keinen wirklichen Knigge mehr, es gibt auch keine Institutionen mehr wie die Kirche oder die Schule, wo wir lernen, ob wir das dürfen oder ob wir das nicht dürfen. Also wir machen es im Leben eben, und dann geht es manchmal schief. Ich bin ja fast froh darum, dass es jetzt das Internet gibt, wo man im konkreten Shitstorm immer diskutieren kann, ob ich als 40-jähriger Mann mit dem Longboard einfach völlig ohne Grund auf dem Bürgersteig herumrasen darf oder nicht. Oder ist es okay, wenn ich ein zweijähriges Kind mit auf die CeBIT nehme? Das war ein anderer Shitstorm.

Wenn ein Popstar oder eine berühmte Person gestorben ist, trägt das Netz meistens ein bis zwei Tage Trauer. Ist unsere Trauer im Netz an dieser Stelle echt?

Ich weiß nicht, ob man das verallgemeinern kann. Es gibt sicherlich Fans von Stars – also das, was man in der Medienwissenschaft auch parasoziale Interaktion nennt, dass man eine emotionale Beziehung zu einer Figur entwickelt, die man gar nicht persönlich kennt. Oder die es so vielleicht gar nicht gibt. Wo genauso wie der Aufbau der Bindung und die Vorstellung von dieser Person eine Projektion ist, wie umgekehrt der Akt, wenn sie stirbt, eben auch ein emotionaler Ablösungsprozess ist. Das wäre aus meiner Sicht völlig naheliegend. So, wie eine übermäßige Bindung eines Fans an eine projizierte Figur stattfindet wie an Michael Jackson, um ein Beispiel zu nennen, dass der Gegenprozess, wenn sich das Ganze auflöst, auch mit entsprechendem emotionalem Aufwand geschieht.

Ich finde es naheliegend, dass dies echt ist. Nur weil es medial vermittelt ist, ist es ja nicht unecht. Es gibt aber sicherlich auch Ansteckungseffekte, wenn eine gewisse Anzahl von Kontakten auf eine bestimmte Art und Weise kommuniziert, sodass Menschen in ihrem Meinungsbild umkippen und dann auch anfangen mitzumachen. Das sieht man übrigens auch in der physischen Kohlenstoffrealität, wenn Leute anfangen, Deutschland-Fähnchen auf die Autos zu stecken, obwohl ihnen Fußball völlig egal ist und vielleicht auch Deutschland. Sie machen es dann einfach, weil man es tut. Also, was daran jetzt authentisch ist, das vermag ich nicht zu beurteilen, und ich bin ohnehin skeptisch, ob der Begriff der Authentizität zu irgendetwas tauglich ist. Weil er immer unterstellt, dass etwas anders ist, als es aussieht. Aber das kann man von außen ja nicht mit letzter Sicherheit erkennen.

Verstärken die sozialen Medien Hass oder Mitgefühl? Oder macht das Netz Hass oder Mitgefühl nur deutlicher spürbar?

Es gibt Leute, zu denen auch ich gehöre, die dazu neigen zu sagen: Hier wird einfach nur etwas sichtbar, was ohnehin schon da ist. Wenn es zum Beispiel darum geht, rechtsextreme Einstellungen der Bevölkerung im Internet wahrzunehmen, so glaube ich, dass diese vorher schon da waren. Das ist das eine. Natürlich gibt es dann wiederum auch Verstärkungseffekte, dass sich Positionen, wenn sie erst einmal in der Welt sind, fortpflanzen. Und das Üble ist, dass bestimmte Dinge, die sozial bewusst stigmatisiert sind, also das Unsagbare, dass wenn das Unsagbare gesagt ist, die Grenze nach vorne verschoben ist. Ich will jetzt gar kein Beispiel nennen, weil ich dann das Unsagbare sagen würde. Aber eine gewisse Art von Tabuisierung ist eben sozial und kommunikativ auch wichtig: dass man bestimmte Wörter nicht gebraucht und dass man über bestimmte religiöse und soziale Gruppen nicht auf eine bestimmte Art und Weise spricht. Wenn man diese Grenze überschreitet, dann hat das eine gewisse Ansteckungskraft.

In dieser Situation wirkt das Netz verstärkend, weil es durch die Schriftlichkeit die Dinge dauerhaft macht, die sonst verschwunden sind. Also was man um zwei Uhr nachts halb angetrunken in der Kneipe sagt, ist ja bei allen Beteiligten einen Tag später schon wieder vergessen. Das ist beim Internet nicht so. Es bleibt durch die Schriftlichkeit bestehen, und es wird dann leider auch sichtbarer, weil der Kritikmechanismus, der dann ansetzt, eben auch noch einmal die Aufmerksamkeit verstärkt. Ich sage immer, dass Kritik eigentlich Hotspots setzt. Also Kritik an bestimmten Kommentaren, Diskussionen markiert in einem unübersichtlichen Raum von Millionen von Interaktionen die Stellen, die wichtig sind. Das sind Punkte, die unsere Gesellschaft klären muss oder bei denen sie Konflikte hat. Es gibt ja auch in der Soziologie die Konflikttheorie, die eben die Gesellschaft über ihre Konflikte beschreibt.

Wie schätzt du die Macht der Algorithmen bei unserer Kommunikation ein?

Ich tue mich sehr schwer damit, Algorithmen Subjekteigenschaften zuzusprechen. Algorithmen als solche handeln nicht. Oder ich sage mal anders: Autos handeln nicht, trotzdem führen ihre Existenz und ihre Benutzung kausal dazu, dass es Verkehrstote gibt. Zurechnen tue ich das aber entweder den Autofahrern oder den Produktherstellern. In dieser Situation bin ich der Jurist, der sich weigert, ein physisches oder ein gedachtes Ding verantwortlich zu erklären.

Algorithmen sind nötig, sie kommen in verschiedenen Ausprägungen vor. Wir haben sie bei Google, und ohne Google wäre das Internet praktisch unbenutzbar. Bei aller Google-Kritik vergessen viele Leute sich vorzustellen, was passieren würde, wenn es keine Suchmaschine gäbe. Oder was passieren würde, wenn eine Suchmaschine keine Relevanzgewichtung vornehmen würde, sondern die Treffer zum Beispiel chronologisch ausgeben würde. Dann hätten wir einen Internetindex von 1994 mit kaputten Links auf der ersten Ergebnisseite. Dort sind Algorithmen einfach nötig.

Eigentlich ging es bei ihr nur um die Beobachtung, dass bestimmte Personen mit bestimmten politischen Positionen aufgrund des Algorithmus – indem er auf bestimmte Engagements aufsetzt wie Likes, Shares und Kommentare –, zu einer gewissen Veränderung der neu einfließenden News führt. Mehr sagt die Filter Bubble nicht. Sie sagt nicht, dass Menschen jetzt nur noch eines konsumieren, denn es gibt Bereiche, die ohne solche Algorithmen funktionieren. Alles außerhalb von Facebook ist ohne. Und es gibt auch gegenläufige Effekte, die Eli Pariser gar nicht thematisiert hat. Beispielsweise sehe ich, wenn aus meinem – vielleicht sogar extrem homogenen – Freundeskreis jemand anderes an einer für mich unerwarteten Stelle Kritik äußert. Dann sehe ich diese Kritik, weil es ein Kontakt zweiten Grades ist, genauso, wie es umgekehrt passiert. Also ich glaube, es gibt auch gegenläufige Effekte, über die bisher niemand gesprochen hat, die diese Filter Bubble wieder öffnen. Das Problem der Echokammern ist größer. Weil es Probleme in Weltanschauungen gibt, die sich gegen rationale Argumentation und gegen Kritik immunisieren. Das findet sich unter anderem in der ganzen rechtspopulistischen Ecke, in der gerne Verschwörungstheorien genannt werden oder bestimmte Dinge erst recht falsch sein sollen, weil sie ja überall behauptet werden. Stichwort: Lügenpresse. Man markiert im Grunde ein ganzes Mediensystem als grundsätzlich verlogen. Das gibt es aber auch bei Ideologien oder bei bestimmten politischen Positionen, dass man sich gegen Argumente von außen immunisiert.

Ein Beispiel ist der sogenannte Whataboutism, über den viele Menschen stolz sind, ihn vor einigen Jahren entdeckt zu haben. Die Argumentation mit Whataboutism ist mir grundsätzlich verdächtig, weil sie eine Diskussion abschneidet, statt eine These der anderen Seite weiterzuverfolgen. Nehmen wir mal ein Beispiel von Whataboutism: Ich sage, die Currywurst ist zu scharf, daraufhin sagt jemand anderes: Aber Chili con Carne ist doch auch scharf. Da würde man tatsächlich als rational denkender Mensch sagen, was hat denn jetzt um Himmels willen die Currywurst mit Chili con Carne zu tun? Es steht ja auch die Currywurst auf dem Tisch und nicht Chili con Carne. Aber ich glaube, dass man dies wohlwollend als Vergleichsversuch interpretieren und jetzt klären muss, ob der Vergleich gerechtfertigt ist oder nicht. Statt das von vornherein abzuwehren und zu sagen: Das ist Whataboutism, und mit dir rede ich nicht. Das sind die Probleme. Ich glaube eher, dass es ideologische Schutzmechanismen in den Argumentationen sind, die zu Verschließungen und Echokammern führen.

Gibt es Momente, in denen du wegen des rauen Tons, der im Netz manchmal herrscht, ungern vernetzt bist?

Ja, die gibt es häufig. Ich sage aber nicht, dass ich das mal zumache. Das ist keine aktive Entscheidung. Ich mache dann einfach etwas anderes, wie ich auch im Tagesablauf keine aktive Entscheidung treffe, das Essen einzustellen, sondern mich dem Spazierengehen widme.

Das sind Prozesse, die laufen ab, ohne dass man größere rationale Diskussionen mit sich selbst führt. Also wenn es mir zu doof wird, mache ich eben etwas anderes. Ich frage mich häufiger nach dem Sinn dessen, was ich da tue. Wobei ich mich immer damit herausreden kann, dass es mir ja beruflich hilft und ich gewissermaßen forsche, wenn ich bestimmte Beiträge poste.

Häufig erscheinen mir Diskussionen auch sinnlos, gerade wenn ich das Gefühl habe, dass einige der Teilnehmer die Diskussionen sehr dominieren, aber eigentlich vom Thema wegführen. Das ist meine milde Formulierung für Whataboutism. Also es ist schwer, ein Thema auf einem Punkt zu halten. Das ist aber vielleicht auch ein Anspruch, den man nur noch in der alten Printpresse und als alter weißer Mann hat, weil es eben ein gemeinschaftlicher Diskursprozess ist, bei dem ich keine Herrschaftsansprüche stellen kann. Ich kann den Anschluss anderer ja weder voraussehen noch garantieren. Es geschieht, wie es geschieht.

Stimmst du der These zu, dass wir durch die Kommunikation im Netz gefühlsmäßig abstumpfen? Warum/warum nicht?

Auf die Frage gibt es verschiedene Antworten. Spontan würde ich sagen, dass bestimmte Themen zumindest in der Twitter- und Facebook-Bubble, in der ich mich befinde, deutlicher sichtbar werden. Beispielsweise wenn es um psychische Krankheiten und Befindlichkeiten geht. Also wenn Menschen ihre Depressionen zum Thema machen oder wenn Autisten diskutieren, wie sie behandelt werden wollen. Oder auch der neueste Versuch, Hass mit Liebe zu bekämpfen, ein Vortrag auf der re:publica, den ich ja ganz süß finde, weil die Leute gar nicht merken, dass Jesus das schon gesagt hat.

Bei all diesen Beispielen geht es um Emotionen, die vorher nicht unbedingt sichtbar waren. Also zumindest hat sich die Tageszeitung nicht mit dieser Art von Emotion präsentiert. Wir haben es auch mit persönlicher Betroffenheit zu tun, die artikuliert wird, und wir haben es mit vielen persönlichen Lebensgeschichten zu tun, die sich hier und dort zeigen. Obwohl auch vieles verdeckt wird. Auch die Lebenswelten anderer Personen werden über Massenmedien traditionell nicht so sehr transportiert. Bis dahin würde ich sagen, es ist eher gegenteilig. Ich sehe mehr Menschen, die sich artikulieren, es gibt kulturelle Entwicklungen wie Memes, wie animierte Gifs, wie Emojis oder auch Formate wie Snapchat, die das noch einmal verstärken.

Umgekehrt kann man sich fragen, ob es hilft, dies ins Konstruktive zu wenden, weil die öffentliche Anteilnahme durch Veränderungen des Avatar-Bilds eben die allerleichteste Übung ist. Das sagen ja auch die Clicktivismus-Vorwürfe einiger anderer Debattenteilnehmer, und vielleicht ist die veröffentlichte Anteilnahme auch ein relativ einfacher Substitutionsversuch, anstatt wirklich etwas zu verändern. Also – plakativ gesagt – vielleicht ist der eine oder andere Refugee-Sticker ja auch eher eine Beruhigung dafür, dass man den Weg zum Flüchtlingscamp eben nicht nimmt.

Ich sehe eine leichte Tendenz dafür, dass die Emotionalisierung durch die Kommunikation im Netz verstärkt wird. Die Frage ist, ob sie ins Konstruktive gewendet werden kann oder ob sie im Nichts verläuft.

Siehst du Felder, auf denen uns das Netz empathischer macht? Gibt es Strategien, welche die Empathie im Netz fördern könnten?

Es gibt natürlich Aktionen, bei denen Leute sagen »Hier bin ich, ich brauche Geld« und tatsächlich auch viel Mitgefühl erfahren und einiges an Geld gesponsert bekommen. Das sind Beispiele dafür, dass Menschen in Not auch geholfen wird.

Was die Strategien angeht: Ich schätze Menschen, die Ideale haben. Aber es wären nicht Ideale, wenn sie die Realität wären. Hier geht es eigentlich darum, dass Menschen etwas verändern wollen. Das ist ja grundsätzlich etwas, das ich nicht verurteilen möchte. Ich glaube auch, dass es solche Strategien gibt. Ich bin nur mit dem Begriff Hass in diesem Zusammenhang vorsichtig, weil Hass für mich psychologisch der reine, auf Vernichtung der fremden Psyche gerichtete, Wille ist, und manches, was unter Hass subsumiert wird, für mich nicht dazugehört. Aber wenn sich beispielsweise Bürger aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft stärker artikulieren würden, statt sich dezent zurückzuhalten, wäre dies sicherlich eine sinnvolle Strategie.

Ich glaube, dass man das Schweigen, das Weggucken, das Ignorieren brechen muss. Auch wenn es schwierig ist, auch wenn es manchmal die Dinge noch schlimmer macht. Ich habe das selbst in Netzdiskussionen erlebt, dass ich anfange, mit Leuten, die abstruse Positionen vertreten, zu diskutieren. Und ich sehe, dass die anderen ihre Positionen natürlich nicht ad hoc verändern – das wäre auch naiv, das zu erwarten – und am Ende die ganze Diskussion von ihnen dominiert wird und ich nur noch dabei bin, ihre absurden Verschwörungstheorien abzuwehren. Das ist tatsächlich die Realität. Aber ich glaube, es ist auch wichtig, dass andere sehen, dass ich hier eine Gegenposition beziehe und diesen Quatsch nicht so stehen lasse.

Also jeder Versuch, Strategien zu entwickeln, ist grundsätzlich lobenswert. Es ist nur die Frage, mit welchem Anspruch man an die Sache herangeht. Ich glaube, dass man dies durch bestimmte Netzkampagnen nicht mal eben kurz ändert. Diese Vorstellung erscheint mir etwas naiv. Das sind Jahrzehnte dauernde Prozesse, und man muss sich darüber im Klaren sein, dass man den Stein betropft, sonst hat man wieder die Frustration, und dann kommen ein Jahr später die Artikel, dass die Liebe nicht geholfen hat.

Ich glaube auch, dass man die negativen Gefühle und die negativen Äußerungen nicht unbedingt als Ganzes verdammen sollte. Für mich gehören diese zum Leben dazu. Gerade ist in der taz ein Aufsatz erschienen, in dem dafür plädiert wird, den Hass nicht vollständig zu dämonisieren. Es gebe bestimmte psychische Gründe, weshalb man eben diese Emotionen habe, zum Beispiel auch, um eine entsprechende zielgerichtete Aggression und Motivation aufzubauen. Das Gefühl als solches beruht auf Ursachen und lässt sich nicht einfach auslöschen oder unterdrücken. Es ist also eher die Frage, wie man es umwandelt in eine konstruktive Emotion oder in irgendeine Art von Lösung.

Info: Dieses Interview ist Teil einer Reihe von insgesamt 15 Interviews und wurde letzten Sommer im Rahmen eines Buchprojektes geführt.

Interview mit Patrick Breitenbach

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Du nennst dich digitaler Botschafter und beschäftigst dich mit den Themen Shitstorm und emotionale Ansteckung. Gab es diese Phänomene auch schon vor der Etablierung des Netzes?

Ja, die gab es schon vorher, zumindest emotionale Ansteckung. Der Mensch lernt maßgeblich über Imitation. Und das bedeutet, dass wir – bewusst oder sogar unbewusst – ständig darum bemüht sind, andere Menschen zu imitieren. Wenn wir ständig umringt sind von Menschen, die schlechter Laune sind, färbt das langfristig auch auf uns ab. Aber natürlich passiert das auch umgekehrt. Das heißt, wenn man Menschen hat, die stets gut gelaunt sind, sind diese genauso ansteckend. Im öffentlichen Raum ist emotionale Ansteckung seit Beginn der Menschheit vorhanden, weil wir auf diese Weise lernen und uns so weiterentwickeln.

Das Netz hat natürlich eine ganz neue Dynamik hineingebracht, weil es die Welt viel kleiner und mehr Kommunikation sichtbar macht. Es leitet auch ein bisschen dazu an, mehr Missverständnisse in die Kommunikation zu bringen. Es findet viel auf Textebene – das heißt in Eigeninterpretation – ohne Mimik und Gestik statt. Insgesamt kann man sagen, dass wir durch das Netz mehr Kommunikationskontakte haben und vor allem mit den verschiedensten Menschen in Kontakt treten. Damit erhöht sich natürlich tendenziell auch die Gefahr der Ansteckung der jeweiligen Emotion. Von daher ist emotionale Ansteckung nichts Neues.

Was den Shitstorm betrifft: Es ist die Frage, wie man Shitstorm definiert. Diesen Begriff gibt es im Englischen nicht, dort spricht man vom Firestorm. Im Deutschen hat sich der Name Shitstorm etabliert, er bezieht sich aber auf die digitale Variante der Ansteckung oder des Beschimpfens und der Empörung. Auch vor der Entstehung des Internets gab es sicherlich Empörungswellen, aber die liefen sehr viel kleiner, begrenzter und langsamer ab. Gerüchte zum Beispiel sind auch im Dorf umhergegangen, man hat über den anderen gelästert, man hat andere auch zum Teil öffentlich beschimpft, an den Pranger gestellt. Also dieses Urmenschliche und die Motivation, das zu tun, sind nicht neu. Aber die Dynamik hat sich fundamental verändert.

Ist die positive oder negative emotionale Ansteckung größer in ihrer Dimension?

Das ist natürlich am Ende empirisch sehr schwierig nachzuweisen. Es gab eine große Studie von Facebook, bei der herausgekommen ist, dass es auf jeden Fall in die positive Richtung funktioniert. Momentan haben wir natürlich alle das Gefühl, dass die Laune insgesamt schlechter wird und die Ansteckung in Hass und in mieser Laune überwiegt. Aber es funktioniert tatsächlich umgekehrt. Wir sprechen aber eher über die Dinge, die uns aufregen, erregen und Angst machen. Von daher sind solche Themen bei uns unmittelbar im Bewusstsein, und das kann insgesamt den Eindruck verzerren und verfälschen. Deswegen würde ich mich gar nicht hinreißen lassen, eine eindeutige Aussage zu treffen. Was aber klar ist: Die Ansteckung funktioniert definitiv in beide Richtungen.

Wie können User einen Shitstorm eindämmen, und wann lässt man ihn am besten besser über sich ergehen?

Das kommt darauf an, um was für eine Art von Shitstorm es sich handelt. Es gibt Shitstorms, bei denen man als Betroffener gar nicht viel verändern kann, außer es über sich ergehen zu lassen. Vor allem wenn es um Grundwerte und Werterhaltung geht. Ein Beispiel: Man verletzt die eine Seite in ihren Grundwerten, diese empört sich und drischt ein. Man selbst hat aber eine ganz andere Haltung, die man auch gar nicht verändern möchte. In dieser Situation macht es keinen Sinn, seine Haltung zu verändern, nur weil sich andere empören.

Etwas anderes ist es, wenn man als Unternehmen ein mangelhaftes Produkt in Umlauf gebracht oder sogar betrügerisch gehandelt hat. Wenn eine Reaktion des Unternehmens erwartet wird, dieses Fehlverhalten zum einen einzugestehen und zum anderen zeitnah zu beseitigen, ist es in aller Regel geraten, als Unternehmen zu reagieren, um damit den Shitstorm zu beenden oder sogar ins Positive zu wenden. Auch dies ist möglich. Shitstorms können mitunter eine Chance für Unternehmen sein, diesen Shitstorm kommunikativ zu nutzen. Fast alle Shitstorms haben gemeinsam, dass sie irgendwann vorbeigehen. Die Erfahrung zeigt, dass die Empörungswelle zwar immer sehr groß und heftig ist, aber der nächste Shitstorm zum Glück bereits an der nächsten Ecke wartet, sodass das Gewitter an den nächsten Schauplatz zieht. Für denjenigen, der betroffen ist, ist das natürlich immer saublöd. Aber mitunter kann man sagen, dass so etwas sehr schnell auch von alleine wieder vorbeigeht. Oder wenn man Glück und eine breite fan base hat – also viele Sympathisanten auf seiner Seite –, kann man hoffen, dass diese vielleicht in die Bresche springen und den Kampf sozusagen für einen mit ausfechten. Auch hier gilt es dann, eher ein bisschen zurückhaltend und abwartend zu sein. Es gibt kein pauschales Rezept, es kommt tatsächlich auf den jeweiligen Fall in dem entsprechenden Kontext an.

Transparenz ist wahrscheinlich auch ein guter Ratgeber?

Mein erster Tipp wäre: Sobald man merkt, dass man sich emotional angegriffen fühlt – und das merkt man ja sehr schnell, wenn man ein bisschen auf sich achtet –, wenn man Herzrasen kriegt, wenn man sich aufregt, dann sollte man nicht reagieren. Also in dieser Situation hilft es, einen Außenstehenden, der ein bisschen Distanz hat, dem man aber auch vertrauen kann, einfach zurate zu ziehen. Mein Tipp wäre, nicht sofort auf alles zu reagieren, sondern erst einmal Abstand zu den Emotionen zu gewinnen. Diese Erregung, diese Emotion, diese Wut sind ja das, was einen Shitstorm antreibt. Ich würde nicht per se sagen, dass man sich ganz transparent machen und sich dem aussetzen sollte. Das auf keinen Fall, dies wäre kein guter Rat.

Manche Menschen trauern im Netz öffentlich, andere kritisieren diese Trauer. Brauchen wir mehr Toleranz und Offenheit?

Ich würde es anders formulieren. Je offener und toleranter eine Gesellschaft ist, desto weniger Reibungspunkte gibt es. Auf der anderen Seite ist es mir lieber, dass Menschen mit Worten miteinander in den Kampf, in den Streit oder in den Konflikt gehen. Wir wären auch nicht gut beraten, konfliktscheu zu werden. In Zukunft gilt es eher, Regeln für Konfliktlösungen zu entwickeln, um Konflikte auf vernünftige Art und Weise auszutragen. Solche Entwicklungen wie Hate Speech sind natürlich extrem schlecht, und das verurteile ich. Aber diese Stufe finde ich immer noch weniger krass als körperliche und physische Gewalt. Das ist für mich noch ein Zivilisationsschritt weiter. Aber wünschenswert ist natürlich, wenn man die Zivilisierung im Bereich der Sprache, der Kommunikation und auch im Umgang miteinander fortsetzt. Die Höflichkeit ist im Mittelalter verortet. Wir haben den anderen nicht provoziert, damit er nicht sein Breitschwert herausholt und uns köpft, wenn wir beispielsweise etwas Blödes gesagt haben. Aus diesem Grund hat sich die Höflichkeit entwickelt ebenso wie die Achtsamkeit auf Sprache, damit man das Gegenüber nicht unnötig zu Gewalttaten provoziert. Dadurch entstand eben auch neben anderen Faktoren ein Zivilisierungsprozess. Durch die Entstehung des Internets hat man jedoch das Gefühl, dass es wieder zu einem Rückschritt in der Zivilisierung gekommen ist. Aber da prophezeie ich optimistisch, dass im Netz wieder mehr Zivilisierung stattfinden wird. Denn niemand ist auf Dauer glücklich, selbst die Hater sind nicht glücklich, sonst würden sie ja nicht haten. Dies wird sich in Zukunft weiterentwickeln, und es finden ja auch schon Dinge im Kleinen statt.

Verstärken die sozialen Medien Hass oder Mitgefühl? Oder macht das Netz Hass oder Mitgefühl nur deutlicher spürbar?

Auch da gilt: sowohl als auch. Ich würde weder ausschließen, dass Hate Speech noch einmal anstachelt, noch dass es Leute abstößt, die wiederum Empathie mit den Opfern haben, sich auf ihre Seite stellen. Das ist ein permanenter Kampf. Es ist ein bisschen vergleichbar mit der These, ob Gewaltspiele gewalttätiger machen. Dafür gibt es bis heute keine eindeutige wissenschaftlich fundierte Aussage. Es gibt Theorien, die sagen, dass es nur bei den Menschen eine Gefahr darstellt, die noch andere Risikofaktoren haben. Ich glaube, dass dieses Risikofaktorbild auch sehr passend ist für Hate Speech. Das bedeutet: Menschen, die noch andere Risikofaktoren haben, die beispielsweise in einem Gewaltkontext sozialisiert wurden, in dem Hate Speech an der Tagesordnung war, sind eher in die negative Richtung beeinflussbar.

Und andere, die eher zivilisierter sozialisiert wurden, lassen sich davon nicht sofort anstecken. Im Gegenteil. Diese stellen sich eher als Schutz vor die jeweiligen Opfer. Man kann nicht pauschal sagen, dass alles in Richtung Hate abdriften wird, nur weil es Hate Speech gibt. Das ist natürlich ein Problem, und Hate Speech ist ein Akt des Sadismus, das ist auch keine Spielerei. Studien haben tatsächlich nachgewiesen, dass die Täter oftmals denken, das sei alles nur ein Spiel vor dem Bildschirm. Sie vergessen dabei, dass am anderen Ende eine Person sitzt, die verletzt wird. Deshalb gilt es natürlich, Hate Speech immer wieder zu thematisieren, vor allen Dingen im Bildungsbereich, in der Pädagogik und in der Schule. Dort findet sich oft die Keimzelle von solchen Dingen.

Wie schätzt du die Macht der Algorithmen bei unserer Kommunikation ein?

Algorithmus ist irgendwie das neue Phantasma, das überall herumgeistert und wahlweise die Leute begeistert oder verängstigt. Ich glaube tatsächlich, dass dies extrem aufgekocht wird. Ja, es gibt Algorithmen, und sie haben auch eine gewisse Macht, aber ich glaube, noch längst nicht in dem Maße, wie man uns das immer vermitteln will. Es gab jüngst ein Facebook-Beispiel zum Thema Trending Topics in den USA. Dort wurden uns bei Facebook Trending Topics anzeigt, ähnlich wie bei Twitter. Jeder Nutzer ging von einem Algorithmus aus, aber letztendlich waren es Facebook-Mitarbeiter, die nichts anderes gemacht haben, als die Mainstream-Medien zu durchforsten und selbst festzulegen, welche die Trending Topics sind.

Die Algorithmen-Geschichte ist wie ein gutes Marketing. Das hilft auch Facebook, wenn sein Algorithmus aufgeblasen wird und sich herumspricht, was er alles Tolles kann. Aber nichtsdestotrotz bemerken wir den Algorithmus im alltäglichen Gebrauch bei Facebook, und natürlich wird es auch ein Zukunftsthema werden. Gerade wenn es in wirklich existenzielle Bereiche wie zum Beispiel Versicherung oder Kreditwürdigkeit geht. Deswegen warne ich auch immer, diesen Algorithmus so zu verherrlichen, weil er am Ende dann doch so schlecht gemacht ist, aber so viele Existenzen daran hängen. Es wäre fatal, sich voll und ganz auf Algorithmen zu verlassen.

Ich sehe die Gefahr, dass Menschen diese Verantwortung am liebsten an Algorithmen abgeben würden, gerade wenn es um Bereiche wie das Militär geht. Dort wird angedacht, dass in Zukunft Drohnen aufgrund von Datensätzen selbst entscheiden können, wen sie abschießen. Dies ist natürlich eine riesige ethische Gefahr. Aber daran ist letztendlich nicht der Algorithmus schuld, sondern das, was der Mensch aus dem Konstrukt »Algorithmus« macht.

Gibt es Momente, in denen du wegen des rauen Tons, der im Netz manchmal herrscht, ungern vernetzt bist?

Ich schaue mir längst nicht mehr alles an. Manchmal reichen mir Ausschnitte, um zu wissen, was in den Kommentarspalten abgeht. Das muss ich mir nicht komplett reinziehen. Ich weiß, wie das funktioniert, wer da alles auftaucht und mit welchen Sprüchen. Deshalb ist es manchmal auch ganz gut, sich nicht hineinzuvertiefen und sich alles anzutun. Höchstens um reinzugehen, um dagegenzuhalten. Das halte ich auch für wichtig, aber nicht, um den anderen wieder zu beschimpfen, sondern eher, um sich vielleicht auch im Sinne des Opfers auf dessen Seite zu positionieren, ohne dass ich den Angreifer wieder angreife. Dies stachelt ja meistens nur an.

Und ansonsten zur Frage, ob ich mich weniger gerne vernetze. Auf keinen Fall, im Gegenteil. Dadurch ist die Vernetzung noch einmal qualitativ wertvoller geworden, weil man tatsächlich eher darauf achtet, mit welchen Menschen man sich vernetzt. Das verstärkt auch die Solidarität unter denjenigen, die genau das Gleiche ablehnen. Für mich stellt sich daher überhaupt nicht die Frage, warum ich mich nicht weiter vernetzten sollte. Ich glaube, Vernetzung ist an dieser Stelle sogar extrem wichtig, um auch Gegennetzwerke oder Widerstandsnetzwerke zu bilden. Dies entwickelt ja auch eine gewisse Sichtbarkeit und Schlagkraft.

Siehst du Felder, auf denen uns das Netz empathischer macht? Gibt es Strategien, welche die Empathie im Netz fördern könnten?

Ja. Ich glaube, dass eine Sensibilisierung und ein Bewusstsein für Sprache weitaus stärker stattfinden, als es vor dem Internet der Fall war. Dies löst natürlich zunächst einmal eine riesen Reaktanz bei denjenigen aus, die sich nicht vorhalten lassen wollen, wie sie zu sprechen haben. Aber letztendlich ist eine Sensibilisierung für Sprache – verbunden mit einer Empathie – eher angestiegen.

Der erste Schritt wäre, sich bewusst zu machen, was mit Kommunikation passiert und was Kommunikation mit uns macht. Das kann auch als Selbstreflektion verstanden werden. Einfach darauf zu achten, was mit mir passiert, wenn ich einen Newsfeed angucke oder gewisse Meldungen lese. Welche Regungen fühle ich innerlich? Der erste Schritt wäre, eine Selbstachtsamkeit zu entwickeln, um Medien bewusster wahrzunehmen. Ich denke, vielen Menschen ist noch nicht klar, was Kommunikation mit ihnen und ihren Emotionen macht. Der zweite Schritt wäre – wenn man erkannt hat, was dies mit einem macht –, anzufangen, strategisch dagegenzugehen. Indem man zum Beispiel bewusst sagt: Okay, das regt mich jetzt tierisch auf, aber ich teile jetzt mein Leid nicht mit meinen Freunden, denn dann regen sie sich ja genauso auf. Warum sollte ich ihnen das antun? Das sollte man natürlich nur sagen, wenn man selbst an einem Punkt angelangt ist, an dem man nichts mehr ändern kann. Oder wenn ich etwas daran ändern kann, dann mache ich es, indem ich mich auf einer gewissen Ebene engagiere. Man sollte sich aber dreimal überlegen, ob man diese eine Meldung wirklich weiterverbreiten möchte. Das hört sich jetzt sehr leicht an, ist aber unfassbar schwer. Ich habe das selbst öfters probiert und bin immer selber in die Falle getappt: Emotionen sind stärker als Achtsamkeit und eine bewusste vernünftige Handlung. Das liegt daran, dass wir als Menschen maßgeblich von unserem limbischen System, von unserem Gefühlszentrum, auf Überleben programmiert sind.

Deshalb würde ich raten, eine Achtsamkeit zu trainieren, daraus eine gewisse Gelassenheit zu entwickeln und dann zu überlegen, welche Botschaften ich weitertragen möchte. Dazu gehört natürlich auch, die positiven Sachen im Netz stärker zu verbreiten, auch wenn sie nicht so viele Empörungs-Klicks und Likes bekommen. Aber ich kann mir bewusst werden, dass wir natürlich auch Freude miteinander teilen und die Ansteckung auch in eine andere Richtung forcieren können.

Wenn wir so einen Umgang miteinander pflegen würden: nicht bei jeder Kleinigkeit drauflospreschen, sondern auch mal Fünfe gerade sein lassen – Stichwort »Toleranz« –, ein Stück weit einfach leben und leben lassen und bei Gewaltandrohung handeln, die Justiz einschalten oder sich engagieren, wäre dies sehr sinnvoll.

Es gibt keine Patentlösung. Mein Aufruf wäre eher eine Sensibilisierung für das Ganze und auch ein Hinterfragen des eigenen Sharing-Verhaltens, des eigenen Streuens. Denn das ist ja das Neue: Jeder ist heute Publizist geworden. Die Gatekeeper, die das in der Vergangenheit geregelt haben, gibt es nicht mehr. Es gab spürbar weniger Emotionen in der Medienlandschaft, auch wenn Medien immer wieder mit Emotionen gearbeitet haben. Aber wir beobachten aktuell eine extreme Boulevardisierung von Medien: Alle setzen nur noch auf Reizemotionen, um Teilbarkeit herzustellen, um Klicks zu generieren. Dies gilt es, ein Stück weit kritisch zu hinterfragen und vielleicht an der einen oder anderen Stelle zu durchbrechen.

Hier ein Positivbeispiel: Perspective Daily, ein journalistisches Angebot, das ganz bewusst auf das Konstruktive setzt. Die Macher stellen ein großes Problem vor, wie beispielsweise Wassermangel in Namibia oder gestohlenes Öl. Aber zugleich bieten sie einen konstruktiven Lösungsvorschlag an, wie man sich zum Beispiel engagieren kann. Ich glaube, dies könnte ein neuer Weg sein, der ganz gut veranschaulicht, wie man auch anders mit Emotionen im Netz umgehen könnte.

Info: Dieses Interview ist Teil einer Reihe von insgesamt 15 Interviews und wurde letzten Sommer im Rahmen eines Buchprojektes geführt.