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Interview mit Ronja von Wurmb-Seibel

RonjavonWurmbSeibel_swDu hast als Journalistin in Kabul gelebt und gearbeitet. In welchem Umfang kommunizieren die Menschen dort übers Netz?

Als ich nach Kabul kam, war ich überrascht, wie wichtig das Internet dort ist. Gerade die jüngeren Leute sind online extrem stark vernetzt. Facebook, Instagram, Twitter und Apps, deren Namen ich vorher noch nie gehört hatte. Extrem viel läuft über Facebook, jedes Ministerium, jeder Politiker, jedes Geschäft hat eine eigene Seite, alles zu Zeiten, als dies in Deutschland noch sehr ungewöhnlich war.

Das Internet hat in Kabul eine sehr existenzielle Funktion: Immer wenn es irgendwo in der Stadt einen Anschlag gegeben hat, tauschen die Leute auf Twitter ihre Infos aus. Wer hat den Knall gehört? In welchen Stadtteilen? Wie viele Verletzte gibt es? Wie viele Tote? Wer war der Angreifer? Meistens gibt es schon in den ersten Minuten nach dem Anschlag relativ genaue Angaben dazu, wo etwas passiert ist.

Und dann gibt es noch eine ganz andere Seite: Viele junge Leute nutzen das Internet, um mit ihrem heimlichen Schwarm zu flirten, weil die meisten Familien immer noch darauf beharren, dass ihre Kinder ihren zukünftigen Mann oder ihre zukünftige Frau erst bei der Hochzeit kennenlernen. Das Internet bietet also auch die Möglichkeit, gesellschaftlich streng überwachte Regeln zu umgehen.

Insgesamt gibt es aber natürlich einen Haufen Leute in Kabul, die das Internet nicht nutzen, weil sie es sich nicht leisten können. Das Geld, das sie verdienen oder erbetteln, reicht nicht einmal, um genug Essen für ihre Familie kaufen zu können.

Welchen Beitrag könnte die Technik deiner Meinung nach leisten, um die Kommunikation in Afghanistan zu verbessern?

Eine Handykarte 4G kostet etwa 10 Dollar, je nach Anbieter. So viel verdient ein einfacher Arbeiter an zwei oder drei Tagen. Man muss sich das Internet also erst mal überhaupt leisten können. Über das Handy hinaus haben nur sehr wohlhabende Afghanen und manche Ausländer eine wirklich stabile Verbindung. Und sobald man die Stadt verlässt, ist es auch schon vorbei mit Vernetzung. Da ist noch viel Luft nach oben, gerade in den ländlichen Gebieten.

Gehen die Menschen dort im Netz anders miteinander um als hier?

Diskussionen im Netz, unabhängig von ihrem Inhalt, werden wahnsinnig schnell politisch aufgeladen. Da gibt es immer irgendeinen, der anfängt, dieses oder jenes Thema für eine Debatte über die verschiedenen Ethnien in Afghanistan zu benutzen. Das liegt vermutlich auch daran, dass die meisten Menschen in Afghanistan sehr politisch sind, einfach weil sie die konkreten Auswirkungen der Politik und des Kriegs viel stärker in ihrem eigenen Leben spüren, als wir das in Europa gewohnt sind. In vielen Fällen ist die Kommunikation aber auch sehr zielgerichtet, etwa wenn es darum geht, eine Demonstration zu organisieren, oder wenn nach einem großen Anschlag die Blutreserven in den Krankenhäusern knapp werden und dringend Spender für eine bestimmte Blutgruppe gesucht werden.

Waren die Geflüchteten aus Syrien und Afghanistan der Grund, dass ein rauer Ton im Netz spürbar wurde, oder war der Umgang früher genauso rau?

Aus meiner Sicht war das schon immer so. Während des Studiums, von 2007 bis 2011, habe ich für die Redaktion von GMX und web.de gearbeitet. Während der Wochenenddienste musste ich dort manchmal die Foren betreuen – niemand wollte diesen Job machen, weil es in den Kommentarspalten so derb zuging. Ich kann mich an mehrere Morddrohungen unter den Usern erinnern, ein paar Mal mussten wir die Polizei rufen. Vielleicht ist der raue Ton heute hörbarer geworden, weil mehr Leute diese Kommunikationsform nutzen. Aber das kann ja auch etwas Positives sein. Wenn man ein Phänomen erst mal erkannt hat, kann man es auch ändern oder wenigstens gegensteuern. Gerade im Zusammenhang mit den Neuankömmlingen in Deutschland habe ich das Netz auch als einen Ort des Mitgefühls und der Unterstützung erlebt. Wenn ich zum Beispiel für Freunde, die aus Kabul nach Deutschland gekommen sind, über Social Media einen Job, ein Fahrrad oder einen Deutschlehrer gesucht habe, hat dies jedes Mal unglaublich schnell geklappt.

Welchen Rat kannst du Journalisten/Journalistinnen geben, die sich aufmachen, aus Krisen- und Kriegsgebieten zu berichten und zu bloggen?

Banal, aber wichtig: Die meisten »normalen« Versicherungen gelten in Kriegsgebieten nicht, selbst wenn der Versicherer etwas anderes behauptet. Als ich zum ersten Mal nach Afghanistan ging, fragte ich einen erfahrenen Kollegen, der seit Jahrzehnten in Kriegsgebieten unterwegs ist, welche Versicherung er nutzt. Er bemerkte bei dieser Gelegenheit, dass seine Versicherung nicht ansatzweise das abdeckte, von dem er immer ausgegangen war. Im Ernstfall ist so etwas fatal. Ich kann die Versicherung über Reporter ohne Grenzen empfehlen, sie ist einigermaßen günstig und deckt bis auf Entführungen alles ab. Ansonsten: Versucht so gut wie möglich zu verstehen, warum ihr in das jeweilige Land wollt. Das hilft später beim Geschichtenverkaufen, aber vor allem hilft es gegen die Sucht nach Adrenalin und die Gefahr, die damit einhergeht.

Macht euch ein eigenes Bild! Ihr könnt so viele Bücher gelesen haben, wie ihr wollt. Das, was wirklich neu sein wird an euren Geschichten, ist euer Blick, euer Zugang. Als junge Menschen lernt ihr andere Leute kennen als alteingesessene Korrespondenten. Nutzt das als Vorteil und versucht nicht, so zu werden wie sie.

Macht euer eigenes Ding! Die beste Ausbildung, die besten Kontakte, die beste Ausrüstung und das größte Talent sind nichts im Vergleich zu dem Gefühl, wenn du vor einer Geschichte stehst und spürst: Ich muss das erzählen. Seid offen, lasst euch berühren, versucht, Schmerz, Wut und Ohnmacht nicht wegzudrücken, sondern auszuhalten und zu verstehen; und dann: Macht was draus!

Helft euch gegenseitig! Arschlöcher gibt es in unserer Branche schon genug. Aber vor allem: Hört auf euer Bauchgefühl. Wenn euch etwas zu unsicher vorkommt, lasst es bleiben. Immer. Seid nicht zu wagemutig. Dass ihr in das Land gegangen seid, war tough genug. Egal, wie wichtig eine Geschichte ist: Wenn ihr bei der Recherche draufgeht, könnt ihr sie nicht erzählen.

Verstärken die sozialen Medien Hass oder Mitgefühl? Oder macht das Netz Hass oder Mitgefühl nur deutlicher spürbar?

Ach, die Schimpfenden sind halt lauter als der Rest, das ist im Netz nicht anders als überall sonst. Aber es ist mit dem Netz auch einfacher geworden zu helfen: Letztens habe ich für einen bedürftigen Kumpel ein neues Handy gesucht und dafür auf Facebook gepostet. Nach drei Minuten schrieb mir jemand, dass er gern sein altes iPhone verschenken möchte. Und ein Bekannter von mir hat neulich online Geld für eine weitere Runde Chemotherapie gesammelt, weil er sich mit den Behandlungen davor schon komplett verschuldet hatte.

Gibt es Momente, in denen du wegen des rauen Tons, der im Netz manchmal herrscht, ungern vernetzt bist?

Nein. Ich kann ja selbst steuern, wann und wie ich mich diesem Ton aussetze. Ich lese zum Beispiel grundsätzlich sämtliche Kommentare unter meinen Artikeln, allerdings nur dann, wenn ich gut drauf bin und weiß, dass mir die Pöbler nichts ausmachen. Ich versuche, ihre überbordenden Gefühle rauszufiltern und mich zu fragen, welche inhaltliche Kritik hinter dem Lärm versteckt sein könnte. Manchmal komme ich dabei auf ganz gute Ideen. Ich finde, es ist wichtig zuzuhören – gerade denjenigen, deren Meinung wir nicht teilen.

Gibt es Strategien, welche die Empathie im Netz fördern könnten?

O ja, die gibt es. Kübra Gümüșay, eine unglaublich kluge und aktive Bloggerin, macht uns das regelmäßig vor. Mit #SchauHin initiierte sie eine Kampagne, die nun schon seit Jahren auf Alltagsrassismus aufmerksam macht. Auf der re:publica 2016 warb sie mit #OrganisierteLiebe dafür, das Mitgefühl im Netz laut werden zu lassen, oder wie sie selbst es sagte: »Wir müssen Kommentarspalten fluten und Danke sagen!«

Info: Dieses Interview ist Teil einer Reihe von insgesamt 15 Interviews und wurde letzten Sommer im Rahmen eines Buchprojektes geführt.