Du leitest bei BILD die Social-Media-Redaktion. Beobachtest du bei den Nutzern einen Verlust von Mitgefühl?
Einen Verlust von Mitgefühl beobachte ich insgesamt nicht. Was sich auf Plattformen verändert hat, ist aber das sehr direkte Feedback, das Redaktionen und Medienhäuser auf ihre Inhalte bekommen. Das bedeutet: Wir merken immer wieder, dass man ernsthafte Debatten bekommt, wenn man die Nutzer ernst nimmt. Wenn man sie allerdings nicht ernst nimmt, dann darf man sich auch nicht beschweren, wenn sie sich entsprechend benehmen, auch in den Kommentaren. Ich halte das insgesamt für eine gute Entwicklung, da Medienhäuser so gezwungen werden, sich mit ihren Leser zu beschäftigen. Und tatsächlich kommt es dann auch darauf an, sich zu überlegen, wie man die Leute am besten anspricht.
Natürlich gibt es auch Themen, bei denen man bereits vorher weiß, dass sie problematische Kommentare hervorrufen könnten. Gerade bei sensiblen Themen kann man durchaus den Eindruck gewinnen, dass Leute sich eine oftmals ja sehr differenzierte und komplexe Welt auf Plattformen manchmal etwas einfach machen.
Neue Möglichkeiten beim Thema Kommentare bietet uns etwa Facebook-Live. Community-Management ist somit nicht mehr nur noch das Moderieren von Kommentaren bei Facebook, da wir gerade bei Facebook-Live neue und faszinierende Möglichkeiten haben, die Leute einzubinden. So diskutiert bei BILD etwa immer der Autor des Kommentars auf Seite 2 der Zeitung am nächsten Tag per Facebook-Live mit den Usern. Das geht aber auch auf vielen kleineren Ebenen: Wenn der Reporter, der bei uns für Bayern München zuständig ist, vor einem Champions-Spiel über unsere FC-Bayern Seite, die über 130 000 Fans hat, live geht, bekommt viele sehr fachspezifische Fragen. Das ist eine tolle Möglichkeit, Leute einerseits mit einzubeziehen, andererseits aber auch die richtige Zielgruppe für bestimmte Themen zu erreichen.
Wie sehen immer wieder: Wenn man anfängt, mit den Nutzern zu sprechen, und sie ernst nimmt, bekommt man auch sehr gutes und differenziertes Feedback. Mir ist wichtig, dass das Thema Kommentarkultur bei Facebook eben nicht nur auf Hasskommentare beschränkt ist, sondern man muss sich immer überlegen, welche Zielgruppe man wie erreichen möchte und wie man den Leuten etwas geben kann. In der öffentlichen Diskussion zum Thema Facebook-Kommentare kommt mir das häufig zu kurz.
Ist es leichter, mit den Nutzern bei Facebook zu kommunizieren als unter einem Artikel? Kann man das überhaupt vergleichen?
Das ist schwer zu vergleichen, weil es unterschiedliche Situationen sind: Mit Facebook Live hat man es als Reporter vergleichsweise sehr leicht, in den Dialog mit den Nutzern zu gehen. Ich muss nur ein paar Dinge beachten, aber ich kann sofort live gehen und mit den Fans meiner Seite sprechen. Natürlich ist Facebook in diesem Bereich teilweise aber auch etwas flüchtig, was man an der Länge der Kommentare merkt.
Bei digitalen Strategien seid Ihr immer vorne mit dabei. Gilt das auch für die Bekämpfung von Hasskommentaren?
Ich finde, »Bekämpfung von Hasskommentaren« ist vielleicht der falsche Ausdruck. Man muss immer sehen, wie man die Leute erreicht, und ich glaube, die Leute merken sehr schnell, wenn man sie erziehen möchte. Ich glaube, die Aufgabe von Journalisten ist es, die Leute zu informieren. Nichtsdestotrotz ist eine gewisse Haltung wichtig.
Gerade bei sensiblen Themen achten wir sehr genau darauf, was unserer Netiquette entspricht und was nicht. Wir lassen uns in den Kommentaren nicht alles bieten. Was Rassismus oder einfach dumpfer Hass ist, behalten wir uns vor zu löschen. Das hat auch nichts mit Meinungsfreiheit zu tun. Solche Leute möchten wir einfach nur auf unserer Plattform dulden müssen.
Medien, gerade BILD, prägen das Meinungsbild von Menschen. Was tust du, um Ängste abzumildern und Mitgefühl zu wecken?
Wie schon gesagt: Ich glaube, die Aufgabe eines Journalisten ist es zu informieren, und die Aufgabe ist es nicht, die Leute zu erziehen.
Werden Community-Redakteure immer wichtiger?
Ich glaube, dass es einfach wahnsinnig wichtig ist, mit den Leuten zu sprechen, denn Journalisten haben ihre Gatekeeper-Funktion ein Stück weit verloren. Besonders auf Plattformen agieren sie mit ihren Nutzern auf Augenhöhe. Die Nutzer können direkt bei uns kommentieren und uns Feedback geben. Es ist auch eine tolle Möglichkeit für uns Journalisten, weil wir viel zurückbekommen. Weil ich genau weiß, wie etwas ankommt, weil ich auch ein Gespür dafür bekomme, wie die Leute ticken, und letztlich kann ich viel davon lernen. Aus meiner Sicht ist das mehr eine Chance und eine Möglichkeit, als dass es etwas Lästiges ist.
Verstärken die sozialen Medien Hass oder Mitgefühl? Oder macht das Netz Hass oder Mitgefühl nur deutlicher spürbar?
Ich glaube schon, dass man in den sozialen Medien einen Verstärker hat, weil viele Dinge extrem zugespitzt werden und manchmal die Botschaft, der eigentliche Kern von Dingen, in den Hintergrund rückt. Es kann auch sehr schnell sehr viel aus dem Zusammenhang gerissen werden. Dadurch sehe ich schon die Gefahr, dass Hass, aber auch Mitgefühl verstärkt werden kann. Die Verstärkung kann in beide Richtungen gehen.
Ich glaube, die Aufgabe von journalistischen Medienmarken muss es sein, Relevanz jenseits von hyperventilierenden, aus dem Zusammenhang gerissenen Zeilen herzustellen. Man darf nicht in die Falle tappen, Dinge zu verstärken nur um der Zahlen willen. Also dass man noch einmal einen draufsetzt und noch einmal einen draufsetzt, weil die Leute das gerade furchtbar viel teilen. Es ist die Aufgabe von Journalisten auf Facebook, zahlengetriebenes Arbeiten mit dem journalistischen Anspruch der Marke zusammenzubringen.
Wie schätzt du die Macht der Algorithmen bei unserer Kommunikation ein?
Wir müssen uns nichts vormachen: Der Algorithmus bei Facebook bestimmt letztlich ein Stück weit, was wir sehen. Ich glaube, man muss sich als Journalist, der auf Plattformen arbeitet, sehr genau ansehen, was dort passiert. Journalisten sollten einen Facebook-Newsfeed so lesen und verstehen können, wie sie eine Zeitung lesen. Was ich damit meine: Sie sollten in der Lage sein, die Mechanismen von Teilbarkeit und Reichweite bei Facebook zu verstehen – genauso wie sie beurteilen können, ob und warum eine Reportage in der gedruckten Zeitung gelungen ist oder nicht.
Wenn wir uns überlegen, dass 30 Millionen Deutsche monatlich aktiv auf Facebook eingeloggt sind, dann dürfen wir das als Medienmarke nicht ignorieren. Gleichzeitig muss ich mir Gedanken machen, wer ich mit der Marke sein möchte und wie ich dies mit dem journalistischen Anspruch der Marke verbinden kann, um eine Sichtbarkeit bei Facebook zu schaffen. Das ist eine große Herausforderung. Wenn man sich manche Seiten anschaut, dann erkennt man schnell, dass manche Medien sehr stark auf bestimmte Währungen schielen. Es tut der Marke meiner Meinung nach langfristig jedoch nicht gut, wenn die Balance zwischen journalistischem Anspruch und datengetriebenem Arbeiten zu sehr in die Zahlenrichtung ausschlägt.
Werden die Nutzer in den nächsten Jahren immer noch bei Facebook sein?
Die Realität ist, dass Facebook derzeit die größte Reichweite hat, andere Netzwerke haben derzeit deutlich geringere Reichweiten. Nichtsdestotrotz glaube ich, muss man andere Netzwerke sehr genau beobachten und sehr genau schauen, wie Leute zwischen 14 und 19 kommunizieren und wo sie ihre Nachrichten schauen. Stellen sie noch Dinge auf Facebook oder lesen sie dort nur noch passiv mit? Und dann sollte man sich wiederum überlegen, was dies für uns als Marke bedeutet. Müssen wir da auch rein, und wie wollen wir da rein? Gerade Instagram und Snapchat sind zwei Apps, die von der Struktur her ja noch einmal anders aufgebaut sind als Facebook und Twitter. Facebook und Twitter könnte ich als Medienmarke ja immer noch – überspitzt formuliert – als Linkschleuder benutzen.
Wir sehen nach dem Snapchat Discover Start von BILD außerdem, dass wir dort ein Publikum erreichen, das wir über ein Netzwerk wie Facebook nicht mehr erreichen würden – weil es wesentlich jünger ist.
Gibt es Momente, in denen du wegen des rauen Tons, der im Netz manchmal herrscht, ungern vernetzt bist?
Natürlich gibt es ab und zu Momente, in denen man das Internet gerne mal eine Stunde abschalten möchte. Meine Aufgabe ist es jedoch, das Ganze aus professioneller Sicht zu betrachten. Wenn man das aus dieser Sicht betrachtet, dann kann man auch gewisse Mechanismen nachvollziehen. Und natürlich ist es dann nicht meine Aufgabe, das Internet abzuschalten, sondern zu schauen, was warum passiert und was ich daraus lernen kann.
Siehst du Felder, auf denen uns das Netz empathischer macht? Gibt es Strategien, welche die Empathie im Netz fördern könnten?
Das ist am Ende all das, was mit Emotionen zu tun hat. Also im positiven wie im negativen Sinne. Das ist die gesamte Spanne von Emotionen: von Freude über Rührung und Teilnahme bis hin zur völligen Identifikation. Wenn man sich einmal anschaut, was im Netz auch sehr stark neben Empörung und Wut geteilt wird, dann ist es ganz häufig das, womit ich mich identifizieren kann. Und wenn ich etwas teile, etwa bei Facebook oder woanders, dann sage ich auch immer etwas über mich aus. Ich definiere mich selbst auch ein Stück weit über Dinge, die ich selbst teile. Ich glaube, die große Klammer, um die wir uns bewegen, sind am Ende Emotionen.
Zu den Strategien: Ich glaube, letztlich kommt es immer darauf an, Geschichten zu erzählen oder auch über Dinge zu sprechen oder zu schreiben, in denen sich Leute wiederfinden können. Die Strategie dahinter ist immer, von den Leuten und der Plattform her zu denken – und gleichzeitig eine eigene journalistische Haltung zu haben. Als Journalist muss ich mich trotzdem auch immer fragen, wer meine Leser sind, was sie möchten und auf welcher Plattform und in welcher Situation ich sie erreiche.
Ich glaube, es ist besonders wichtig, authentisch zu sein. Deshalb ist es wichtig, dass man auch die Menschen erreicht, die sich möglicherweise zum Hass hinziehen lassen, und dass man diese Leute nicht ausschließt. Es geht darum, journalistische Inhalte zu erstellen, die in Form, Inhalt und Ansprache der jeweiligen Plattform und den Menschen gerecht werden – und für die Marke stehen. Genau diese Standards auch für Plattformen mit all ihren neuen Möglichkeiten zu definieren, ist eine große Aufgabe für Journalisten im Jahr 2017.
Info: Dieses Interview ist Teil einer Reihe von insgesamt 15 Interviews und wurde letzten Sommer im Rahmen eines Buchprojektes geführt. Das Interview wurde am 11.07.2017 aktualisiert.