Interview mit Christoph Kappes

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Du bist Jurist und hast den digitalen Wandel als Berater mitgeprägt. Hast du Verständnis dafür, dass Medienhäuser ihre Kommentarfunktion sperren lassen?

Ja, weil es Arbeit ist und es belastet, sich beschimpfen zu lassen. Nein, weil Kritik zur demokratischen Öffentlichkeit gehört und, was viele Medienhäuser machen, reine Willkür ist. Sie fallen sogar hinter Google und Facebook zurück, was Transparenz angeht.

Manche Menschen üben Selbstjustiz im Netz und machen die sie stalkende Person öffentlich. Was spricht dafür, was spricht dagegen?

Das muss nicht auf der grünen Wiese neu erfunden werden. Hier zeigt uns glücklicherweise das Recht, was okay ist. Also okay ist es, wenn man Tatsachen behauptet, die man auch belegen kann. In diesem Rahmen glaube ich, dass es immer in Ordnung ist, wenn man Dinge publiziert, solange sie nicht verletzend sind. Da muss man sicherlich aufpassen. Deswegen habe ich grundsätzlich keine Bedenken, wenn Menschen andere beschuldigen, bestimmte Taten begangen zu haben. Ich glaube auch, dass es ein natürliches Verhalten ist, das man nicht effektiv verbieten kann. Man muss sich dann aber dessen gewahr werden, dass die Unwahrheit Konsequenzen hat.

Fotos und Wohnort ins Netz zu stellen ist aus meiner Sicht grenzwertig. Und ich glaube, das wäre jenseits der Okay-Grenze. Es gibt auch Fälle in der Politik, dass zum Beispiel Vertreter der Antifa in Hamburg AfD-Politiker mit ihren Daten öffentlich machen, oder das, was in der IT-Szene doxen genannt wird: das Veröffentlichen der Dokumente von Personen. Das geht aus meiner Sicht einen Schritt zu weit, weil es die Person nicht in ihrer Rolle lässt, die sie in dieser Funktion hat. Ich glaube, dass man in dieser Hinsicht mit gewisser Vorsicht agieren muss.

Das bedeutet, Selbstjustiz hat Grenzen. Man darf auch keine Mails oder Briefe veröffentlichen?

Ob man Briefe veröffentlichen darf, da bin ich mir nicht so sicher. Ich könnte mir vorstellen, dass auch das einer Art Briefgeheimnis unterliegt [schmunzelt], weil beide Seiten davon ausgehen können, dass es nicht ohne Weiteres veröffentlicht wird, wenn es sich nicht um öffentliche Personen handelt. Die Rechtslage ist mir jetzt ad hoc gar nicht klar. Aber sozial und ethisch ist das schon im Grenzbereich, eine Information zu veröffentlichen, bei der die andere Seite davon ausgehen kann, dass diese nicht veröffentlicht wird. Deswegen ist das Mitschneiden von Telefonaten strafbar, und deswegen gibt es ein Briefgeheimnis. Es gibt schon auch eine Kultur, dass bestimmte Kommunikationsmittel eben als Kommunikationsmittel geschützt sind.

Es gibt immer auch das Risiko, dass man in seinem eigenen Urteil – auch wenn die Wahrscheinlichkeit noch so gering ist – schiefliegt. Gerade wenn es im digitalen Raum passiert, in dem Leute mit Pseudonymen oder anonym operieren. Und wer dann andere motiviert, sich mit dem Opfer zu solidarisieren, indem man den potenziellen Täter angreift, der muss sich das auch zurechnen lassen.

Wir haben gerade so einen Fall, wenn es um Jakob Appelbaum geht. Auch bei diesem Fall sind die Meinungen im Netz sehr gespalten: Ob er Menschen schikaniert, ob er sich Frauen gegenüber übergriffig verhalten hat oder womöglich versucht hat, sie zu vergewaltigen, oder sie sogar vergewaltigt hat. Da gibt es unterschiedliche Meinungen. Die Konstellation ist natürlich schwierig, weil diese Person dann auch Schaden für den Fall ihrer Unschuld nimmt, wovor der Rechtsstaat sie auch nicht mehr schützen kann. Das kann auch das Gericht nicht mehr wirklich heilen, es bleibt immer etwas kleben.

Manche Menschen werden im Netz bei Medienkatastrophen zu Kritikern. Wie lange brauchen wir noch, bis wir im Netz nicht drauflosspekulieren oder andere belehren?

Auch mir hat es lange Zeit nicht gefallen, dass der Kritikpegel so hoch ist. Ich habe das als negativ und abstoßend empfunden. Aber heute habe ich mich mit einer etwas anderen Sicht angefreundet. Kritik kann sehr positiv sein und in Gänze auch eine Art Klärungsmechanismus darstellen. Und dass man schlecht über Sinn und Unsinn von Kritik diskutieren kann, wenn ein Medium in die Welt gekommen ist, das eben genau dies im Überschuss ermöglicht.

Deshalb weiß ich nicht, ob man die Frage überhaupt so herum stellen kann, dass man vom Übermaß der Kritik spricht. Ich glaube eher, dass sich mit dem Internet die Möglichkeit ergeben hat, dass jeder alles kritisieren kann. Dass die Dinge im Zweifel transparenter werden, als sie manche haben wollen. Also nur im Zweifel, nicht immer. Und dass Kritik ein Prozess ist, in dem man auch Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge steuert. Also, wo Menschen sagen: »Musste dieser Shitstorm sein, das ist doch jetzt irrelevant, und warum müssen sich noch mal 100 Leute dazu äußern, dass dieses oder jenes passiert ist?«, glaube ich, dass dieser Prozess auf einer sozialen, höheren Perspektive sinnvoll ist.

Nehmen wir ein Beispiel, bei dem ich mich auch kurz aufgeregt habe. In einem Text der Süddeutschen Zeitung machte ein Autor eine mehr als unglückliche Formulierung über kleine Menschen. Das war der Hashtag #KeinZwerg. Wo ich mich auch frage: ›Muss es jetzt sein, dass man sich den ganzen Tag auf Twitter damit beschäftigt, dass diese eine Sache so unglücklich gelaufen ist?‹ Es handelt sich aber um einen sozialen Prozess, dass Betroffene sich artikulieren und die Dinge sagen, die ihnen wichtig sind, und man eine neue gesellschaftliche Vereinbarung darüber trifft oder treffen kann, ob man kleine Menschen noch als Zwerge bezeichnen darf, wie das meine Großmutter immer sehr wohlwollend gemeint hat. Oder ob man das heutzutage eben nicht mehr tut. Also das ist auch ein Teil eines notwendigen Prozesses, dass man dann eben nicht mehr Neger oder Zwerg sagt. Der Prozess kann auch nur stattfinden, wenn er über diesen Mikro-Shitstorm zum Ausdruck gekommen ist.

Das heißt, wir brauchen manchmal einen Shitstorm im Netz?

Ja, natürlich. Ich glaube, der Anlass kann häufig ganz banal sein. Es gibt diesen berühmten Brigitte-Shitstorm, bei dem sich eine Frau darüber mokiert hat, dass 40-jährige Männer, die mit dem Longboard über Bürgersteige fahren, Frauen mit ihren Kinderwagen behindern. Das ist natürlich eigentlich nicht wirklich der Rede wert, weil es sich um einen Einzelfall gehandelt hat. An dieser Stelle kann man jetzt beliebige Standpunkte einnehmen: Man kann der Longboard fahrende Mann sein oder auch die entrüstete Mutter, die den Kinderwagen schiebt. Darum geht es aber nicht, sondern meistens geht es um die Konflikte dahinter. Es geht immer darum, neue soziale Regeln zu finden. Ist es richtig, dass man sich so verhält? Oder ist es nicht richtig? Und ich betrachte das eben so abstrakt, dass ich sage: Es gibt keinen wirklichen Knigge mehr, es gibt auch keine Institutionen mehr wie die Kirche oder die Schule, wo wir lernen, ob wir das dürfen oder ob wir das nicht dürfen. Also wir machen es im Leben eben, und dann geht es manchmal schief. Ich bin ja fast froh darum, dass es jetzt das Internet gibt, wo man im konkreten Shitstorm immer diskutieren kann, ob ich als 40-jähriger Mann mit dem Longboard einfach völlig ohne Grund auf dem Bürgersteig herumrasen darf oder nicht. Oder ist es okay, wenn ich ein zweijähriges Kind mit auf die CeBIT nehme? Das war ein anderer Shitstorm.

Wenn ein Popstar oder eine berühmte Person gestorben ist, trägt das Netz meistens ein bis zwei Tage Trauer. Ist unsere Trauer im Netz an dieser Stelle echt?

Ich weiß nicht, ob man das verallgemeinern kann. Es gibt sicherlich Fans von Stars – also das, was man in der Medienwissenschaft auch parasoziale Interaktion nennt, dass man eine emotionale Beziehung zu einer Figur entwickelt, die man gar nicht persönlich kennt. Oder die es so vielleicht gar nicht gibt. Wo genauso wie der Aufbau der Bindung und die Vorstellung von dieser Person eine Projektion ist, wie umgekehrt der Akt, wenn sie stirbt, eben auch ein emotionaler Ablösungsprozess ist. Das wäre aus meiner Sicht völlig naheliegend. So, wie eine übermäßige Bindung eines Fans an eine projizierte Figur stattfindet wie an Michael Jackson, um ein Beispiel zu nennen, dass der Gegenprozess, wenn sich das Ganze auflöst, auch mit entsprechendem emotionalem Aufwand geschieht.

Ich finde es naheliegend, dass dies echt ist. Nur weil es medial vermittelt ist, ist es ja nicht unecht. Es gibt aber sicherlich auch Ansteckungseffekte, wenn eine gewisse Anzahl von Kontakten auf eine bestimmte Art und Weise kommuniziert, sodass Menschen in ihrem Meinungsbild umkippen und dann auch anfangen mitzumachen. Das sieht man übrigens auch in der physischen Kohlenstoffrealität, wenn Leute anfangen, Deutschland-Fähnchen auf die Autos zu stecken, obwohl ihnen Fußball völlig egal ist und vielleicht auch Deutschland. Sie machen es dann einfach, weil man es tut. Also, was daran jetzt authentisch ist, das vermag ich nicht zu beurteilen, und ich bin ohnehin skeptisch, ob der Begriff der Authentizität zu irgendetwas tauglich ist. Weil er immer unterstellt, dass etwas anders ist, als es aussieht. Aber das kann man von außen ja nicht mit letzter Sicherheit erkennen.

Verstärken die sozialen Medien Hass oder Mitgefühl? Oder macht das Netz Hass oder Mitgefühl nur deutlicher spürbar?

Es gibt Leute, zu denen auch ich gehöre, die dazu neigen zu sagen: Hier wird einfach nur etwas sichtbar, was ohnehin schon da ist. Wenn es zum Beispiel darum geht, rechtsextreme Einstellungen der Bevölkerung im Internet wahrzunehmen, so glaube ich, dass diese vorher schon da waren. Das ist das eine. Natürlich gibt es dann wiederum auch Verstärkungseffekte, dass sich Positionen, wenn sie erst einmal in der Welt sind, fortpflanzen. Und das Üble ist, dass bestimmte Dinge, die sozial bewusst stigmatisiert sind, also das Unsagbare, dass wenn das Unsagbare gesagt ist, die Grenze nach vorne verschoben ist. Ich will jetzt gar kein Beispiel nennen, weil ich dann das Unsagbare sagen würde. Aber eine gewisse Art von Tabuisierung ist eben sozial und kommunikativ auch wichtig: dass man bestimmte Wörter nicht gebraucht und dass man über bestimmte religiöse und soziale Gruppen nicht auf eine bestimmte Art und Weise spricht. Wenn man diese Grenze überschreitet, dann hat das eine gewisse Ansteckungskraft.

In dieser Situation wirkt das Netz verstärkend, weil es durch die Schriftlichkeit die Dinge dauerhaft macht, die sonst verschwunden sind. Also was man um zwei Uhr nachts halb angetrunken in der Kneipe sagt, ist ja bei allen Beteiligten einen Tag später schon wieder vergessen. Das ist beim Internet nicht so. Es bleibt durch die Schriftlichkeit bestehen, und es wird dann leider auch sichtbarer, weil der Kritikmechanismus, der dann ansetzt, eben auch noch einmal die Aufmerksamkeit verstärkt. Ich sage immer, dass Kritik eigentlich Hotspots setzt. Also Kritik an bestimmten Kommentaren, Diskussionen markiert in einem unübersichtlichen Raum von Millionen von Interaktionen die Stellen, die wichtig sind. Das sind Punkte, die unsere Gesellschaft klären muss oder bei denen sie Konflikte hat. Es gibt ja auch in der Soziologie die Konflikttheorie, die eben die Gesellschaft über ihre Konflikte beschreibt.

Wie schätzt du die Macht der Algorithmen bei unserer Kommunikation ein?

Ich tue mich sehr schwer damit, Algorithmen Subjekteigenschaften zuzusprechen. Algorithmen als solche handeln nicht. Oder ich sage mal anders: Autos handeln nicht, trotzdem führen ihre Existenz und ihre Benutzung kausal dazu, dass es Verkehrstote gibt. Zurechnen tue ich das aber entweder den Autofahrern oder den Produktherstellern. In dieser Situation bin ich der Jurist, der sich weigert, ein physisches oder ein gedachtes Ding verantwortlich zu erklären.

Algorithmen sind nötig, sie kommen in verschiedenen Ausprägungen vor. Wir haben sie bei Google, und ohne Google wäre das Internet praktisch unbenutzbar. Bei aller Google-Kritik vergessen viele Leute sich vorzustellen, was passieren würde, wenn es keine Suchmaschine gäbe. Oder was passieren würde, wenn eine Suchmaschine keine Relevanzgewichtung vornehmen würde, sondern die Treffer zum Beispiel chronologisch ausgeben würde. Dann hätten wir einen Internetindex von 1994 mit kaputten Links auf der ersten Ergebnisseite. Dort sind Algorithmen einfach nötig.

Eigentlich ging es bei ihr nur um die Beobachtung, dass bestimmte Personen mit bestimmten politischen Positionen aufgrund des Algorithmus – indem er auf bestimmte Engagements aufsetzt wie Likes, Shares und Kommentare –, zu einer gewissen Veränderung der neu einfließenden News führt. Mehr sagt die Filter Bubble nicht. Sie sagt nicht, dass Menschen jetzt nur noch eines konsumieren, denn es gibt Bereiche, die ohne solche Algorithmen funktionieren. Alles außerhalb von Facebook ist ohne. Und es gibt auch gegenläufige Effekte, die Eli Pariser gar nicht thematisiert hat. Beispielsweise sehe ich, wenn aus meinem – vielleicht sogar extrem homogenen – Freundeskreis jemand anderes an einer für mich unerwarteten Stelle Kritik äußert. Dann sehe ich diese Kritik, weil es ein Kontakt zweiten Grades ist, genauso, wie es umgekehrt passiert. Also ich glaube, es gibt auch gegenläufige Effekte, über die bisher niemand gesprochen hat, die diese Filter Bubble wieder öffnen. Das Problem der Echokammern ist größer. Weil es Probleme in Weltanschauungen gibt, die sich gegen rationale Argumentation und gegen Kritik immunisieren. Das findet sich unter anderem in der ganzen rechtspopulistischen Ecke, in der gerne Verschwörungstheorien genannt werden oder bestimmte Dinge erst recht falsch sein sollen, weil sie ja überall behauptet werden. Stichwort: Lügenpresse. Man markiert im Grunde ein ganzes Mediensystem als grundsätzlich verlogen. Das gibt es aber auch bei Ideologien oder bei bestimmten politischen Positionen, dass man sich gegen Argumente von außen immunisiert.

Ein Beispiel ist der sogenannte Whataboutism, über den viele Menschen stolz sind, ihn vor einigen Jahren entdeckt zu haben. Die Argumentation mit Whataboutism ist mir grundsätzlich verdächtig, weil sie eine Diskussion abschneidet, statt eine These der anderen Seite weiterzuverfolgen. Nehmen wir mal ein Beispiel von Whataboutism: Ich sage, die Currywurst ist zu scharf, daraufhin sagt jemand anderes: Aber Chili con Carne ist doch auch scharf. Da würde man tatsächlich als rational denkender Mensch sagen, was hat denn jetzt um Himmels willen die Currywurst mit Chili con Carne zu tun? Es steht ja auch die Currywurst auf dem Tisch und nicht Chili con Carne. Aber ich glaube, dass man dies wohlwollend als Vergleichsversuch interpretieren und jetzt klären muss, ob der Vergleich gerechtfertigt ist oder nicht. Statt das von vornherein abzuwehren und zu sagen: Das ist Whataboutism, und mit dir rede ich nicht. Das sind die Probleme. Ich glaube eher, dass es ideologische Schutzmechanismen in den Argumentationen sind, die zu Verschließungen und Echokammern führen.

Gibt es Momente, in denen du wegen des rauen Tons, der im Netz manchmal herrscht, ungern vernetzt bist?

Ja, die gibt es häufig. Ich sage aber nicht, dass ich das mal zumache. Das ist keine aktive Entscheidung. Ich mache dann einfach etwas anderes, wie ich auch im Tagesablauf keine aktive Entscheidung treffe, das Essen einzustellen, sondern mich dem Spazierengehen widme.

Das sind Prozesse, die laufen ab, ohne dass man größere rationale Diskussionen mit sich selbst führt. Also wenn es mir zu doof wird, mache ich eben etwas anderes. Ich frage mich häufiger nach dem Sinn dessen, was ich da tue. Wobei ich mich immer damit herausreden kann, dass es mir ja beruflich hilft und ich gewissermaßen forsche, wenn ich bestimmte Beiträge poste.

Häufig erscheinen mir Diskussionen auch sinnlos, gerade wenn ich das Gefühl habe, dass einige der Teilnehmer die Diskussionen sehr dominieren, aber eigentlich vom Thema wegführen. Das ist meine milde Formulierung für Whataboutism. Also es ist schwer, ein Thema auf einem Punkt zu halten. Das ist aber vielleicht auch ein Anspruch, den man nur noch in der alten Printpresse und als alter weißer Mann hat, weil es eben ein gemeinschaftlicher Diskursprozess ist, bei dem ich keine Herrschaftsansprüche stellen kann. Ich kann den Anschluss anderer ja weder voraussehen noch garantieren. Es geschieht, wie es geschieht.

Stimmst du der These zu, dass wir durch die Kommunikation im Netz gefühlsmäßig abstumpfen? Warum/warum nicht?

Auf die Frage gibt es verschiedene Antworten. Spontan würde ich sagen, dass bestimmte Themen zumindest in der Twitter- und Facebook-Bubble, in der ich mich befinde, deutlicher sichtbar werden. Beispielsweise wenn es um psychische Krankheiten und Befindlichkeiten geht. Also wenn Menschen ihre Depressionen zum Thema machen oder wenn Autisten diskutieren, wie sie behandelt werden wollen. Oder auch der neueste Versuch, Hass mit Liebe zu bekämpfen, ein Vortrag auf der re:publica, den ich ja ganz süß finde, weil die Leute gar nicht merken, dass Jesus das schon gesagt hat.

Bei all diesen Beispielen geht es um Emotionen, die vorher nicht unbedingt sichtbar waren. Also zumindest hat sich die Tageszeitung nicht mit dieser Art von Emotion präsentiert. Wir haben es auch mit persönlicher Betroffenheit zu tun, die artikuliert wird, und wir haben es mit vielen persönlichen Lebensgeschichten zu tun, die sich hier und dort zeigen. Obwohl auch vieles verdeckt wird. Auch die Lebenswelten anderer Personen werden über Massenmedien traditionell nicht so sehr transportiert. Bis dahin würde ich sagen, es ist eher gegenteilig. Ich sehe mehr Menschen, die sich artikulieren, es gibt kulturelle Entwicklungen wie Memes, wie animierte Gifs, wie Emojis oder auch Formate wie Snapchat, die das noch einmal verstärken.

Umgekehrt kann man sich fragen, ob es hilft, dies ins Konstruktive zu wenden, weil die öffentliche Anteilnahme durch Veränderungen des Avatar-Bilds eben die allerleichteste Übung ist. Das sagen ja auch die Clicktivismus-Vorwürfe einiger anderer Debattenteilnehmer, und vielleicht ist die veröffentlichte Anteilnahme auch ein relativ einfacher Substitutionsversuch, anstatt wirklich etwas zu verändern. Also – plakativ gesagt – vielleicht ist der eine oder andere Refugee-Sticker ja auch eher eine Beruhigung dafür, dass man den Weg zum Flüchtlingscamp eben nicht nimmt.

Ich sehe eine leichte Tendenz dafür, dass die Emotionalisierung durch die Kommunikation im Netz verstärkt wird. Die Frage ist, ob sie ins Konstruktive gewendet werden kann oder ob sie im Nichts verläuft.

Siehst du Felder, auf denen uns das Netz empathischer macht? Gibt es Strategien, welche die Empathie im Netz fördern könnten?

Es gibt natürlich Aktionen, bei denen Leute sagen »Hier bin ich, ich brauche Geld« und tatsächlich auch viel Mitgefühl erfahren und einiges an Geld gesponsert bekommen. Das sind Beispiele dafür, dass Menschen in Not auch geholfen wird.

Was die Strategien angeht: Ich schätze Menschen, die Ideale haben. Aber es wären nicht Ideale, wenn sie die Realität wären. Hier geht es eigentlich darum, dass Menschen etwas verändern wollen. Das ist ja grundsätzlich etwas, das ich nicht verurteilen möchte. Ich glaube auch, dass es solche Strategien gibt. Ich bin nur mit dem Begriff Hass in diesem Zusammenhang vorsichtig, weil Hass für mich psychologisch der reine, auf Vernichtung der fremden Psyche gerichtete, Wille ist, und manches, was unter Hass subsumiert wird, für mich nicht dazugehört. Aber wenn sich beispielsweise Bürger aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft stärker artikulieren würden, statt sich dezent zurückzuhalten, wäre dies sicherlich eine sinnvolle Strategie.

Ich glaube, dass man das Schweigen, das Weggucken, das Ignorieren brechen muss. Auch wenn es schwierig ist, auch wenn es manchmal die Dinge noch schlimmer macht. Ich habe das selbst in Netzdiskussionen erlebt, dass ich anfange, mit Leuten, die abstruse Positionen vertreten, zu diskutieren. Und ich sehe, dass die anderen ihre Positionen natürlich nicht ad hoc verändern – das wäre auch naiv, das zu erwarten – und am Ende die ganze Diskussion von ihnen dominiert wird und ich nur noch dabei bin, ihre absurden Verschwörungstheorien abzuwehren. Das ist tatsächlich die Realität. Aber ich glaube, es ist auch wichtig, dass andere sehen, dass ich hier eine Gegenposition beziehe und diesen Quatsch nicht so stehen lasse.

Also jeder Versuch, Strategien zu entwickeln, ist grundsätzlich lobenswert. Es ist nur die Frage, mit welchem Anspruch man an die Sache herangeht. Ich glaube, dass man dies durch bestimmte Netzkampagnen nicht mal eben kurz ändert. Diese Vorstellung erscheint mir etwas naiv. Das sind Jahrzehnte dauernde Prozesse, und man muss sich darüber im Klaren sein, dass man den Stein betropft, sonst hat man wieder die Frustration, und dann kommen ein Jahr später die Artikel, dass die Liebe nicht geholfen hat.

Ich glaube auch, dass man die negativen Gefühle und die negativen Äußerungen nicht unbedingt als Ganzes verdammen sollte. Für mich gehören diese zum Leben dazu. Gerade ist in der taz ein Aufsatz erschienen, in dem dafür plädiert wird, den Hass nicht vollständig zu dämonisieren. Es gebe bestimmte psychische Gründe, weshalb man eben diese Emotionen habe, zum Beispiel auch, um eine entsprechende zielgerichtete Aggression und Motivation aufzubauen. Das Gefühl als solches beruht auf Ursachen und lässt sich nicht einfach auslöschen oder unterdrücken. Es ist also eher die Frage, wie man es umwandelt in eine konstruktive Emotion oder in irgendeine Art von Lösung.

Info: Dieses Interview ist Teil einer Reihe von insgesamt 15 Interviews und wurde letzten Sommer im Rahmen eines Buchprojektes geführt.