Christoph Kappes (*1962) gründete nach dem Studium der Rechtswissenschaft (Nebenfächer Informatik und Philosophie) die Xplain GmbH, eine der ersten Internetagenturen Deutschlands, die er siebzehn Jahre leitete und dabei mit allen Business-Themen des Internets für Kunden wie OTTO und DaimlerChrysler befasst war. Nach dem Verkauf und einer Zeit als Managing Director bei Pixelpark gründete er 2008 sein Beratungsunternehmen Fructus GmbH, mit der er seine Online-Expertise anbietet. Seit 2010 schreibt Kappes zur Digitalisierung, u.a. bei FAZ, FAS, Spiegel Online, Merkur und war als Sachverständiger der Internet-Enquete des Deutschen Bundestages eingeladen.
Meine persönlichen Daten werden gesammelt, auch wenn ich mich nicht aktiv durch das Netz klicke. Muss mir das Angst machen?
Nein. Es kommt darauf an, wer Sie sind, also welche Daten Sie implizit erkennbar gemacht haben und von wem Sie negatives Verhalten zu erwarten haben. Je nachdem haben Sie Repressionen gar nicht oder von ganz verschiedenen Leuten zu befürchten, vom Staat über Unternehmen bis hin zu sozialem Gruppen und Einzelpersonen. Das kann man nicht über einen Kamm scheren. Durch bloßes Surfen ohne Dateneingabe kann für die meisten Menschen nicht viel passieren. Für Menschen mit seltenen Verhaltensweisen oder Einstellungen hingegen mehr. Kurioserweise sind also diejenigen am wenigsten betroffen, die sich am meisten erzürnen, nämlich weiße Heterosexuelle ohne Handicap, die Mainstream-Parteien wählen.
„Das Netz vergisst nichts.“ Ist es diese Aussage, die uns beim Eintritt in die virtuelle Welt Unbehagen verursacht?
Diese These ist falsch. Das Netz vergaß bisher extrem viel, viele Websites sterben ja und sogar alte Kommentare werden bei Relaunches einfach nicht übertragen. In vielen Fällen ist es nicht „das Netz“, sondern es sind Institutionen, die gegen das Vergessen andokumentieren, das sollte man nicht verwechseln; und andere Institutionen wie PR-Abteilungen löschen die Vergangenheit ganz gezielt. Meine eigene Erfahrung ist: von hunderten von Websites aus den 90ern, an deren Entwicklung ich beteiligt war, ist keine mehr da. Ich habe auch keine Mails mehr aus der Zeit vor 2007. Das mag sich mit großen Cloud-Diensten ändern, das ist aber nicht „das Netz“, sondern eben die Archivfunktion von Rechenzentrumsanbietern. Über Auswirkungen sollte man in zehn Jahren ernsthaft reden, im Moment ist das sehr spekulativ. Nochmal zehn Jahre später lachen aber dann die Leute nicht mehr über den Vorschlag von Eric Schmidt von Google, dass man sich einen neuen Namen geben könnte. Namen sind Adressen, die der Identifikation dienen. Das ganze kulturelle Drumherum, das am Namen klebt, hat andere Gründe. Man könnte sogar sagen: Dir einen Namen zu geben verhindert, das niemand Dein Handeln vergessen kann. Wir werden vielleicht den Namen ändern, den Schlüssel zur alten Identität hat eine Positivliste – und der Staat.
Häufig wird von „der Netzgemeinde“ gesprochen. Gibt es eine solche Netzgemeinde noch?
Es gibt immer das, was Sie sehen. Und Sie sehen, was Sie sehen wollen. Dadurch konstruieren Sie sich die Netzgemeinde selbst. So ist der Mensch, er muss ja aus tausenden von Individuen verallgemeinern und segmentieren, damit ihm von der Welt ein Modell ermöglicht wird, das ihm die Angst vor Unbekanntem nimmt. In diesem Fall kann man allerdings beobachten, dass sich beim Personenkreis über die Jahre persönliche Beziehungen aller Art entwickelt haben; das ist die Besonderheit von „Netz“, dass sich durch (Inter-) Netz das (Beziehungs-)Netz verstärkt. Man kennt sich eben auch hier. Das Netz ist ein großes Hinterzimmer.
Wenn wir einen Medienminister hätten, auf welcher Seite müsste er stehen: Auf der Seite derer, die die Freiheit im Netz für sich reklamieren, oder auf der Seite derer, die einen verbesserten Persönlichkeitsschutz fordern?
Wir brauchen keinen „Medienminister“, das sehen Sie ja schon an Ihrer Frage, weil Sie nach „Seite stehen“ fragen. Als Teil der Regierung stünde er naturgemäß auf der (Innen-)Seite des Staates. Ein Staatsorgan, das von dort aus auf Medien einwirkt, führt zur Implosion der Demokratie. Falls Sie „Internetminister“ meinen: das mache ich gern, sobald ich wieder Zeit habe, und da stehe ich natürlich auf der Seite der Freiheit. Jedenfalls solange, wie ich noch nicht gewählt bin.
Zur Urheberrechtsdebatte im Netz: Könnten Sie sich Vergütungsmodelle vorstellen, mit denen sowohl Autoren und Künstler als auch Mediennutzer gut leben können? Oder muss man die Regeln der realen Welt einfach auf die virtuelle Welt 1:1 übertragen?
Was sind „Vergütungsmodelle“? Ich glaube, da ist seit Jahren schon die Diskussion schief. Kulturflatrates und ähnliches sind keine „Vergütungsmodelle“, sondern verschleierte Steuern, wie die sog. „GEZ-Gebühr“. Ich habe materiell gar nicht viel dagegen, mich ärgert aber die Art, wie hier Neusprech entstanden ist. Und mir fehlen Fakten, warum wir solche Modelle brauchen, das wäre eher abzuwarten. Dadurch, dass vielfach einzelne Unternehmensarten in der Wertkette unter Druck geraten oder wegfallen, sinken einerseits Preise, andererseits bleibt Künstlern nominal nicht weniger als vorher. Ich habe das gerade für mein Startup Sobooks für die Buchbranche durchgerechnet. Zusätzlich gibt es Abo-Modelle, welchen den Künstlern ein stetiges Einkommen ermöglichen. Ich sehe die Zukunft also eher positiv. Wahrscheinlich spaltet sich der Markt, Gebrauchsinhalte unter professionellen Bedingungen und gute Kreativware. Wer von beidem nicht leben kann, ist auf Kulturförderung oder Sozialsystem angewiesen.
Wird sich Crowdfunding Ihrer Meinung nach für Filme oder Bücher dauerhaft etablieren können?
Ich bin gegenüber den meisten Fällen von Crowdfunding eher skeptisch, weil Endkunden solche Risiko-Investments nicht gut einschätzen können und das Prinzip „Wenn´s schief geht, hat´s nicht so wehgetan“ auf Dauer etwas dürftig ist. Da wird noch viel Vertrauen verspielt werden, bis wir neue Qualitätssicherungsmodelle auch online finden, die im Grunde die alten Strukturen (wie Banken und Verlage) nachbilden, nur günstiger.
Warum nutzen wir Menschen so gerne soziale Netzwerke?
Weil wir immer schon in sozialen Netzwerken organisiert waren. Wir brauchen die Kommunikation mit anderen, um unser Selbst zu bilden. Wir brauchen das Menschennetz, weil in jeder Beziehung zu anderen Nutzen für uns schlummert, auch und gerade bei schwachen Beziehungen und solchen über Eck. Gesellschaft funktioniert so, zum Beispiel bei Netzwerken von Auswanderern, und leider ist die Software-Lösung viel zu trivial, um das gut abzubilden. Facebook ist also eine Reaktion auf ein sehr altes Bedürfnis. Es ist nicht etwas Neues ohne Ursprung, bei dem wir ernsthaft und isoliert wählen könnten, ob wir es als Gesellschaft wollen oder nicht. Das sehen Juristen und Politiker anders, weil sonst ihr eigenes Geschäftsmodell in Frage gestellt ist. Man kann aber keine soziokulturellen Gegebenheiten gesetzlich an- oder abschalten.
Woher kommt mein schlechtes Bauchgefühl, wenn es um Facebook oder Google geht. Ist die mediale Berichterstattung Schuld an dem schlechten Ruf?
Facebook und Google sind schlecht in der Unternehmens-kommunikation, weil sie nicht nach vorne gerichtet den Sinn ihrer Tätigkeit in größeren Zusammenhängen kommunizieren und immer nur reagieren, wenn die Sau von der Presse schon durchs Dorf getrieben wurde. Sie haben keine Lobby in Deutschland und passen auch wunderbar sowohl ins subtil antiamerikanische und antikapitalistische Beuteschema, als auch in das des Aggressors, der unsere wunderschöne, edle Medienkultur gefährdet – ein großartiges Narrativ, mit dem Medien sich selbst anschauen wie Narziss. Mit dem Herunterspielen medialen Mülls stechen sie sich allerdings dann auch wie Narziss selbst den Dolch in die Brust.
Sie twittern viel und gerne. Können Sie bei sich eine Twitter-Sucht definitiv ausschließen?
Nein. Sucht erkennt man bei sich selbst zuletzt, weil man zu sich selbst keine distanzierte Beobachtungsposition aufbauen kann. In meinem Fall ist allerdings „always on“ schon immer berufliche Normalität gewesen, in zwanzig Jahren als Agenturchef schleicht sich so was ein wie bei anderen Leuten Unterhosen, die sie den ganzen Tag tragen.
Sie gründen aktuell mit Sacha Lobo einen reinen E-Book-Verlag. Was wird ihn von anderen Verlagen unterscheiden? Brauchen wir das wirklich?
Es klingt sicher etwas verrückt, aber wir wollen zeigen, dass ein heute sozusagen neu gedachter Verlag anders funktioniert als einer aus der Gutenberg-Ära. Wir stellen jedes Detail auf den Prüfstand und an was wir nicht glauben, fällt weg, zum Beispiel DRM oder bestimmte Handelsstufen, die keine ausreichende Wertschöpfung bringen. Gleichzeitig denken wir das Produkt in einigen Dimensionen neu, zum Beispiel der Länge und der Art des Zugangs. Bitte verstehen Sie, dass wir dazu nicht viel sagen wollen. Wir haben unglaublich viel in der Technik zu bewältigen, es wird eine komplett neue Plattform geben, das dauert ein paar Tage länger als ein Relaunch. Wichtig ist noch folgendes: Wir glauben daran, dass der Markt sich in Kostenlosangebote und Qualitätsangebote teilt, und wir wollen vor allem letzteres bedienen. Das bedeutet auch, dass unser Focus anders als bei vielen anderen Startups nicht so sehr Selfpublishing ist. Wir zielen auf gute Autoren, und wir können als Plattform auch fremde Verlagsangebote integrieren, das würden wir sogar sehr gern, wenn die Verlage mitmachen. Da sind aber leider für unsere Konzepte ein paar Old-Economy-Probleme zu lösen, die nicht bei uns liegen. Deswegen haben wir Sobooks ja gegründet: wir wollen durch eine Neugründung Tempo ermöglichen, das für etablierte Verlage schwer zu erreichen ist. Das ist gar kein Vorwurf, sondern ein Fakt. Wir zum Beispiel haben keine Wiederverkäufer, daher müssen wir auf die auch keine Rücksicht nehmen.