Thierry Chervel (*1957) hat Musikwissenschaften studiert. Er war Redakteur bei der taz (Film, Musik, Tagesthemen), Kulturkorrespondent für die Süddeutsche Zeitung in Paris und Redakteur auf der Berliner Seite der Süddeutschen. Thierry Chervel ist Mitbegründer des Perlentauchers.
Meine persönlichen Daten werden gesammelt, auch wenn ich mich nicht aktiv durch das Netz klicke. Muss mir das Angst machen?
Ich glaube nicht, dass man davor Angst haben muss, dennoch gilt: Das Internet ist ein Raum der Freiheit, er kann aber auch zu einer Überwachungstechnik werden – gerade bei mobilen Geräten, die nur dann Sinn machen, wenn sie Bewegungsprofile aufzeichnen. Egal auf welchem Gerät man gerade unterwegs ist, hinterlässt man Spuren. Wenn Sie mich fragen: Es ist nicht so, dass ich vor Unternehmen wie Google Angst habe, aber diese Technologien können natürlich in der Hand von politischen Regimes sehr wohl zu Überwachungsmaßnahmen genutzt werden, und davor sollte man sich schon schützen. Es ist nicht schlecht, sich mit Anonymisierung zu befassen.
„Das Netz vergisst nichts.“ Ist es diese Aussage, die uns beim Eintritt in die virtuelle Welt Unbehagen bereitet?
Ja, mir ist bekannt, dass es vielen Menschen Unbehagen verursacht und ich glaube auch, dass jeder das Internet gewissermaßen erst einmal „lernen“ muss. Man kann im Internet nicht genauso kommunizieren, wie man dies in einem privaten Gespräch tut. Das zeigt sich auch bei Diensten wie Facebook, die „halb öffentlich“ sind. Wir müssen einfach lernen nachzudenken, bevor wir uns äußern. Man sollte sich dessen bewusst sein, was man von sich preisgibt.
Häufig wird von „der Netzgemeinde“ gesprochen. Gibt es eine solche Netzgemeinde noch?
Die Netzgemeinde sind wir alle. Ich bin ja der Ansicht, dass es gar nichts anderes mehr gibt, als das Internet. Dies gilt auf jeden Fall für den Medienbereich. Meiner Meinung nach sind Zeitungen „gedruckte“ und Fernsehbeiträge „gesendete“ Internetdateien. Es wird gerne von Repräsentanten der alten Medienöffentlichkeit so getan, als sei das Internet ein weiteres Medium. Aber es ist mehr als das, es ist – wie einst der Buchdruck – eine ganz neue Medientechnologie, die im Grunde alle anderen Medien in sich aufsaugt. Und es ist auch noch viel mehr als eine Medientechnologie, denn wir reden im selben Atemzug von selbstfahrenden Autos, wie wir vom Medienwandel reden. Die Digitalisierung leitet diese Veränderungen ein und revolutioniert fast alle Bereiche unseres Lebens.
Wenn wir einen Medienminister hätten, auf welcher Seite müsste er stehen: Auf der Seite derer, die die Freiheit im Netz für sich reklamieren, oder auf der Seite derer, die einen verbesserten Persönlichkeitsschutz fordern?
Der Persönlichkeitsschutz ist dazu da, dass man sich frei im Internet bewegen kann. Der Schutz der Privatsphäre und die Freiheit des Internets bedingen einander. Ein Medienminister müsste sich meiner Meinung nach vor allem mit dem Medienwandel befassen – da ginge es in etwa darum, wie die Medienlandschaft in Deutschland angesichts der Digitalisierung neu zu gestalten wäre. Meiner Meinung nach könnte man zum Beispiel über die Rolle der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nachdenken, die sich meiner Meinung nach verändern müssen.
Nehmen wir den Streit um die Tagesschau-App: Die ganze Debatte wird dominiert von zwei Akteuren: von den öffentlich- rechtlichen Anstalten und von den Printinstituten. Der Streit über die Tagesschau- App und ihre „Print-Ähnlichkeit“ ist lächerlich, weil Medienbegrifflichkeiten der vordigitalen Zeit in die digitale Zeit übertragen werden und weil beide Seiten versuchen, die Machtverhältnisse der vordigitalen Zeit im Netz zu zementieren. Ich sehe auch nicht ein, dass Inhalte, für die die Allgemeinheit schließlich bezahlt hat, unbedingt nach bestimmten Fristen wieder aus dem Internet gerissen werden sollten. Im Gegenteil: Inhalte, für die wir bezahlt haben, sollten uns auch zur Verfügung stehen. Diese Debatten zwischen Print und Anstalten greifen generell zu kurz: Die Medienlandschaft als Ganzes muss neu durchdacht werden: Die Businessmodelle aller privaten Medien stehen in Frage und es wäre darüber nachzudenken, ob sich die Idee des Öffentlich-Rechtlichen, die ja verfassungsrechtlich bei uns verankert ist, nicht modernisieren lässt: Man könnte sie zum Beispiel von den Anstalten lösen und die freiwerdenden Gelder im Ausschreibungsverfahren für innovative Medienprojekte nutzen. Ein Beispiel: Jeder Sender hat bisher ein Gesundheitssystem. Aber in einem Zeitalter, wo jeder jeden Sender sehen kann und der Empfang nicht mehr regional begrenzt ist, werden die Inhalte redundant. Könnte man hier nicht sparen und ein Internetprojekt entwickeln, wo man die öffentlich-rechtlichen Beiträge zum Thema bündelt. Im Moment läuft im März mal eine Sendung über Rheuma und im Oktober eine über Kopfschmerzen, aber man möchte ja in dem Moment die Information haben, in dem man ganz konkret von dem Symptom betroffen ist. Ein solchen Projekt könnte man zum Beispiel ausschreiben und es könnte sich jedes Medium darauf bewerben; ob es Zeitungskonzerne sind, ob es öffentlich-rechtliche Anstalten sind, ob es neue Internetmedien sind, wer auch immer. Dies könnte auch eine Debatte darüber entfachen, welche Medieninhalte die Öffentlichkeit überhaupt haben möchte.
Das ist schon wegen des demografischen Problems unumgänglich: Der Altersschnitt der Zuschauer beim ZDF ist 63 Jahre, aber bezahlen muss jeder 18-Jährige, der ein Handy hat. Durch die gleichzeitige Verfügbarkeit aller Sender in allen Regionen ergeben sich Einsparpotenziale, die für eine Renovierung der Medienlandschaft genutzt werden können. Wir leben heute in einem Zeitalter des Überflusses der Frequenzen und der Medieninhalte. Was ist also überhaupt noch das knappe Gut, das öffentlich-rechtlich gehegt und geschützt werden soll?
Zur Urheberrechtsdebatte im Netz: Könnten Sie sich Vergütungsmodelle vorstellen, mit denen sowohl Autoren und Künstler, als auch Mediennutzer gut leben können? Oder muss man die Regeln der realen Welt einfach auf die virtuelle Welt 1:1 übertragen?
Man kann die Regeln der realen Welt nicht auf die virtuelle Welt übertragen. Das heutige Urheberrecht setzt die Existenz physischer Kopien voraus. Aber in der Digitalisierung ist es so, dass man Inhalte verlustfrei kopieren kann. Die Folge ist, dass das man das Urheberrecht völlig anders denken muss. Das ist eine schwere Aufgabe, vor allem da dies nur auf internationaler Ebene geschehen kann. Die Piraten sollten zumindest die Impulse dazu geben, was das Urheberrecht angeht. Es ist wichtig, dass bestimmte internationale Handelsabschlüsse die von den alten Inhaltskonzernen dominiert werden, wie beispielsweise Acta, von einer neuen Öffentlichkeit genau beobachtet und zur Not auch begrenzt werden.
Wird sich Crowdfunding Ihrer Meinung nach für Filme oder Bücher dauerhaft etablieren können?
Ob das nur eine Phase ist, kann man schwer sagen. Plattformen wie Kickstarter haben in den USA bereits bewiesen, dass sie fähig sind, Projekte zu finanzieren. Es kommt mir auf jeden Fall faszinierend vor, nicht nur was kulturelle Projekte angeht. Auch Geschäftsideen holen sich auf diese Weise Geld.
Wie sollten wir mit den Herausforderungen der digitalisierten Kultur umgehen?
Wenn Sie Kultur im engeren Sinn meinen, dann stellt sich zum Beispiel die Frage des kulturellen Erbes. Das Internet bietet die Möglichkeit, es einer großen Zahl viel zugänglicher zu machen als es je war, aber das Gestrüpp des heutigen Urheberrechts verhindert dies zugleich. Bestimmte Teile des kulturellen Erbes gehen darüber verloren. Ich denke etwa an wichtige Kinofilme, die wegen ungeklärter Rechtefragen in den Archiven verschimmeln. Wie schön wäre es, wenn sie digitalisiert würden und der Allgemeinheit zu Verfügung stünden – kostenlos oder mit praktischen und realistischen Bezahlmodellen.
Warum ist das Leistungsschutzrecht für Zeitungs- und Zeitschriftenverleger gefährlich für die Existenz des Perlentauchers?
Ob das Leistungsschutzrecht für die Existenz des Perlentauchers gefährlich wird, hängt davon ab, wie es formuliert wird. Es gibt Versionen, bei denen nur Suchmaschinen betroffen sind, und es gibt andere Versionen, bei denen sogenannte Aggregatoren eingeschlossen sind. Das Verlangen nach einem solchen Recht ist ein weiteres Symptom für das Bestreben der klassischen Medienakteure, die Machtverhältnisse der vordigitalen Ära im Zeitalter des Internets zu betonieren. So wie die Öffentlich-Rechtlichen ihre Zwangsgebühr bekommen haben, so wollen auch die Printmedien ihren Artenschutz. Das ist meiner Meinung nach auch problematisch für den Wettbewerb. Abgesehen davon steht dieses Leistungsschutzrecht dem Bedürfnis der Gesellschaft nach freier Zirkulation der Information entgegen.
Je mehr Rechte auf Werken oder Medieninhalten liegen, desto mehr wird der kulturellen Auseinandersetzung der Atem abgeschnürt. Diese Rechte waren einmal gedacht, die Entstehung von Kultur zu fördern, aber sie sind so massiv geworden, dass sie heute Kultur verhindern. Im Laufe der letzten 200 Jahre haben sich die Schutzfristen und Rechte soweit ausgedehnt, dass man sich kaum noch bewegen kann, wenn man irgendwie ein kulturelles Werk schaffen will. Wer eine Filmszene zitieren will, muss x verschiedene Rechteinhaber fragen, das ist einfach nicht praktikabel. Kultur ist nichts anderes als Auseinandersetzung mit älteren Werken. Ohne sie stirbt sie ab wie eine Pflanze ohne Humus. Leistungsschutzrechte auf Musikaufnahmen sind zum Beispiel auf 70 Jahre verlängert worden, ohne dass es überhaupt nur diskutiert wurde. Es ist einfach passiert.
Wenn man so etwas wie den Perlentaucher startet, muss man sich gut vernetzen. Man braucht Multiplikatoren. Wie gut waren Sie vorbereitet, bevor Sie auf Tauchstation gegangen sind?
Als wir angefangen haben, waren wir nicht unbedingt vorbereitet auf die Kämpfe – einerseits die juristischen, aber auch die publizistischen Streitigkeiten. Wir haben den Perlentaucher in aller Naivität begonnen. Ich glaube, wir hatten den Instinkt, zu sehen, dass das Internet Bündelung braucht. Das Internet handelt immer wieder vom Suchen und vom Finden. Dass man eine Presseschau ins Netz stellen und auf die Inhalte verlinken kann, ergab sich aus der Logik der Sache. Die alten Medien waren damals noch allein. Als wir den Perlentaucher gegründet haben, gab es noch nicht viel mehr als das; die Bloggerszene war noch nicht entstanden. Am Anfang dachten wir, dass es einfacher ist, ein Geschäftsmodell dafür zu finden. Auch wir mussten lernen, wie schwierig es ist „alleine“ mit Informationen Geld zu verdienen. Bei näherem Nachdenken hat sich gezeigt, dass die Medien eigentlich noch nie mit Informationen Geld verdient haben, sondern eigentlich nur dadurch, dass sie ein Bündel bereitgestellt haben. Eine Zeitung zum Beispiel organisiert einen regionalen Markt und dadurch, dass die Zeitung nach vielen Kämpfen mehr oder weniger ein Monopol hat, kann sie die Anzeigenpreise definieren. Darüber haben sie sich letztlich finanziert, nicht über die Inhalte.
Die juristischen Auseinandersetzungen haben uns viel Energie gekostet. Geld nicht so viel, denn die Gegenseite musste 90 Prozent der Kosten zahlen. Aber so ein Prozess kann einen in die Knie zwingen, und die Zeitungen waren sich dessen bewusst. Die Richter haben am Ende deutlich gemacht, dass Verstöße gegen das Zitatrecht grundsätzlich nur im Einzelfall geklärt werden können. Letztlich ist unser Geschäftsmodell, das uns die Zeitungen wegschlagen wollten, jedoch bestätigt worden.
Kreative arbeiten oft ohne Geld, wenn sie froh sind, wenn ihre Idee umgesetzt wird. Wie können „Kreative“ im Netz Ihrer Meinung nach die Situation für sich verbessern?
Für jedes private Medium stellt sich heute das Problem des Geschäftsmodells. Die Funktionen haben sich entkoppelt, das heißt die Zeitungen haben ihre Rubrikenmärkte verloren, und diese waren essenziell für ihre Existenz. Die Informationen waren Teil des Bündels, immer schon querfinanziert. Und davon hing auch die Existenz der freien Journalisten ab. Jetzt ist es so, dass man als Journalist in den klassischen freien Medien kaum noch unterkommt, und der Job auch schlecht bezahlt wird, so dass man daraus eigentlich keine Existenz mehr gründen kann.
Für einen jungen Journalisten wäre mein Rat, sich auf ein spezifisches Thema zu fokussieren. Warum macht man nicht einen Blog zu einem bestimmten politischen Thema? Hier in Berlin gibt es durchaus Lücken für Blogs, weil die Lokalberichterstattung der Zeitungen zu schwach ist. Es gibt durchaus Bedarf – nehmen wir mal die Flughafengeschichte oder die S-Bahngeschichte. Es können auch kleinere Geschichten sein, die nur einzelne Stadtteile betreffen. Aber klar: Die Konkurrenz wird auch immer größer: Jeder ist sein eigener Autor, die Barrieren sind nicht mehr da, viele Leute können sich äußern, ohne dafür bezahlt werden zu müssen. Ich möchte nicht entmutigen: Wenn jemand Talent hat, dann hat er auch Chancen und wird sich durchsetzen. Aber dieser jemand muss sich schon überlegen, wie er das anstellt.
Nichts ist meiner Meinung nach besser für den Anfang als ein eigens Blog: Wir brauchen dringend Blogs in Berlin zu lokalen Themen, wir brauchen Blogs zu Kulturthemen, zu Tanz, zur Musik, zu Architektur. Aber letztlich gilt natürlich: Man muss mit dem loslegen, was einen interessiert. Und wenn Sie sich für Medien interessieren, dann legen sie in Gottes Namen mit Medien los. Es gibt ja das Bildblog, das von Stefan Niggemeier betrieben wird, aber es gibt beispielsweise kein kritisches Blog zu ARD und ZDF. Eine große Lücke!